Der eingeschränkte Zugang Geflüchteter zu gesundheitlichen Leistungen in Deutschland ist ein deutlicher Belastungsfaktor für Geflüchtete. Dabei zeigen Geflüchtete oftmals einen schlechteren Gesundheitszustand als die deutsche Allgemeinbevölkerung, berichten aber gleichzeitig eine niedrigere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems (Biddle et al., 2019). Grund dafür sind vielfältige Zugangsbarrieren wie fehlende Sprachmittlung oder bürokratische Hürden.
Aus Studien bekannte Hindernisse beim Zugang zu bedarfsgerechten Versorgungsangeboten sind:
- Sprach- und Kommunikationsbarrieren
- verzögerte oder fehlende Kostenübernahmen für Sprachmittlung
- Diskriminierung, bürokratische Hürden und erhöhte Kosten durch die Praxis der Krankenscheine in vielen Bundesländern
- Diskriminierungserfahrungen in der Regelversorgung
- geringe Bereitschaft von Ärzt*innen der Regelversorgung sich mit Abrechnungsmodalitäten auseinander zu setzen
- geringe Vernetzung von Ärzt*innen und z.B. Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen
- eingeschränkte Versorgungskapazitäten & lange Wartezeiten
- Unterbrechung diagnostischer und therapeutischer Prozesse durch (asylrechtlich bedingte) Neuzuweisungen und Wohnortwechsel
- eingeschränkte Erreichbarkeit durch die strukturelle Kontrolle der Autonomie in Unterkünften, die isolierte Wohnsituation sowie verzögerte oder fehlende Kostenübernahmen für Fahrtkosten
- Informations- und Wissensdefizite über eigene Ansprüche und das deutsche Gesundheitssystem
Diese Hindernisse haben deutliche Auswirkungen sowohl auf die Gesundheit der Betroffenen als auch auf die Frage, inwieweit sie eine Behandlung in Anspruch nehmen (können). So konnte eine Studie in Baden-Württemberg zeigen, dass ca. 30 % der Bedarfe an allgemeinmedizinischer und fachärztlicher Versorgung von Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften nicht durch das Gesundheitssystem abgedeckt werden (Biddle, Menold, et al., 2019). Dies deckt sich mit den Daten, die das wissenschaftliche Institut der AOK zur Gesundheit erhoben hat (Schröder et al., 2018): 27 % der chronisch erkrankten Geflüchteten, die das Institut befragt hat, gaben an, dass sie in den letzten sechs Monaten bei Ärzt*innen waren, aber nicht behandelt wurden. Der Zugangsweg wird von Betroffenen als hürdenreich und entmündigend wahrgenommen. Betroffene resignieren zunehmend, wenn ihr Bemühen wiederholt ins Leere läuft (Spura et al., 2017). Es kommt darüber hinaus zu Fehldiagnosen bzw. Fehlmedikation durch fehlende Sprachmittlung (Schouler-Ocak & Kurmeyer, 2017), zu vermehrten Krankenhausbehandlungen (Göpffarth & Bauhoff, 2017) und zu Chronifizierungen von Erkrankungen durch Nicht-Erkennen oder Nicht-Behandlung der Krankheit (Bundespsychotherapeutenkammer, 2015). Diese problematischen Konsequenzen und die entsprechenden Folgekosten wären vermeidbar, wenn psychosoziale Beschwerden bei Geflüchteten frühzeitig identifiziert würden (Biddle, Menold, et al., 2019).
In der Realität werden Hinweise auf psychische Erkrankungen jedoch vielerorts nicht systematisch erfasst und die Betroffenen erhalten oft weder eine Diagnose noch eine entsprechende Behandlung (vom Felde et al., 2020). Eine Studie aus Sachsen-Anhalt hat geprüft, wie hoch in einer Zufallsstichprobe der Anteil der Geflüchteten ist, die Symptome einer psychischen Erkrankung zeigen und diese Ergebnisse mit Daten zum Anteil der Geflüchteten in Verbindung gesetzt, die letztlich eine Diagnose bzw. eine Behandlung bekommen. In der Zufallsstichprobe zeigten 54 % der Personen Symptome einer Depression, 41 % Symptome einer Angststörung und 18 % Symptome einer PTBS. Im Vergleich mit den Ergebnissen einer Sekundäranalyse von Daten der lokalen Sozialämter wurde hier eine große Lücke deutlich: Nur 2,6 % der Asylsuchenden aus dem Datensatz der Sozialämter bekam die Diagnose einer Depression, bei 1,4 % wurde eine Angststörung diagnostiziert und bei 2,9 % eine PTBS. Weniger als ein Zehntel der potentiell symptombelasteten Asylsuchenden haben diesem Verhältnis zufolge die Chance, auch eine entsprechende Diagnose zu erhalten. Von den im Datensatz der Sozialämter diagnostizierten Personen erhielten letztlich etwa 45 % überhaupt keine Behandlung, 38 % wurden ausschließlich medikamentös behandelt. Nur 1 % aller Patient*innen befand sich in Psychotherapie (Führer et al., 2019).
Weitere Informationen finden Sie unter:
Biddle, L., Menold, N., Bentner, M., Nöst, S., Jahn, R., Ziegler, S., & Bozorgmehr, K. (2019). Health monitoring among asylum seekers and refugees: A state-wide, cross-sectional, population-based study in Germany. Emerging Themes in Epidemiology, 16(1), 3. https://doi.org/10.1186/s12982-019-0085-2
Bundespsychotherapeutenkammer. (2015). BPtK-Standpunkt: Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen. https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20150916_bptk_standpunkt_psychische_erkrankungen_fluechtlinge.pdf
Führer, A., Niedermaier, A., Kalfa, V., Mikolajczyk, R., & Wienke, A. (2019). A yawning gap: Asylum-seekers’ health care needs and outpatient treatment for psychological complaints. https://doi.org/10.13140/RG.2.2.14333.51682
Göpffarth, D., & Bauhoff, S. (2017). Gesundheitliche Versorgung von Asylsuchenden—Untersuchungen anhand von Abrechnungsdaten der BARMER. Barmer GEK Gesundheitswesen aktuell, 32–65.
Schouler-Ocak, M., & Kurmeyer, C. (2017). Study on Female Refugees-Repräsentative Untersuchung von geflüchteten Frauen in unterschiedlichen Bundesländern in Deutschland. https://www.integrationsbeauftragte.de/Webs/IB/DE/Themen/GesellschaftUndTeilhabe/Medien/2017-03-22-study-on-female-refugees.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Schröder, H., Zok, K., & Faulbaum, F. (2018). Gesundheit von Geflüchteten in Deutschland – Ergebnisse einer Befragung von Schutzsuchenden aus Syrien, Irak und Afghanistan. WIdOmonitor, 1, 1–20.
Spura, A., Kleinke, M., Robra, B.-P., & Ladebeck, N. (2017). Wie erleben Asylsuchende den Zugang zu medizinischer Versorgung? Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 60(4), 462–470. https://doi.org/10.1007/s00103-017-2525-x
vom Felde, L., Flory, L., & Baron, J. (2020). Identifizierung besonderer Schutzbedürftigkeit am Beispiel von Personen mit Traumafolgestörungen. Status quo in den Bundesländern, Modelle und Herausforderungen. Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. http://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2020/10/BAfF_Reader_Fruehfeststellung.pdf