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Neue Behandlungsempfehlungen für Traumafolgestörungen

Seit Dezember 2019 liegt eine aktualisierte S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor. Sie basiert auf einer systematischen Analyse von Forschungsergebnissen und Veränderungen im wissenschaftlichen Traumadiskurs. Im Gegensatz zu der alten Version der Leitlinie von 2011, in der noch über DESNOS (Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified) diskutiert worden war (Flatten et al., 2011), enthält die aktuelle Version auch ein eigenes Kapitel zur komplexen PTBS (Schäfer et al., 2019).

Vorstellung der Komplexen Posttraumatischen Behandlungsstörung (KPTBS)

Nach langjähriger internationaler Weiterentwicklungsarbeit wurde im Mai 2019 die 11. Revision des Internationalen Klassifikationssystems der Krankheiten von der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet (ICD-11). Das ICD-11 soll ab dem 1. Januar 2022 mit einer flexiblen 5-jährigen Übergangsfrist in Kraft treten. Eine wichtige Neuerung im Bereich der psychischen Krankheiten ist die Aufnahme der KPTBS als eigenständige Diagnose. Die KPTBS ist gekennzeichnet durch das Erleben von besonders schweren, langandauernden und sich wiederholenden traumatischen Ereignissen. Hierunter zählen die sogenannten Typ-II Traumata, z. B.: kriegerische Auseinandersetzungen, Folter oder andere Formen schwerer politischer und organisierter Gewalt (Schäfer et al., 2019). Neben den drei Kernsymptomen der klassischen PTBS (Wiedererinnerung, Vermeidung und Übererregung) umfasst die KPTBS drei weitere Symptomgruppen:

  • anhaltende und tiefgreifende Probleme der Emotionsregulation (verstärkte emotionale Reaktivität, Affektverflachung, gewalttätige Durchbrüche),
  • ein negatives Selbstkonzept (beeinträchtigte Selbstwahrnehmung wie die Überzeugung, minderwertig, unterlegen oder wertlos zu sein, Schuldgefühle, Schamgefühle)
  • sowie Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen (Schwierigkeiten, nahe Beziehungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten).

Differentialdiagnostisch kann sie zur emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus dadurch abgegrenzt werden, dass die Furcht vor dem Verlassenwerden keine zentrale Rolle spielt, das Selbstbild kaum Schwankungen unterliegt, sondern dauerhaft negativ ist und suizidales Verhalten meist seltener oder wenig stark ausgeprägt ist. Zu beachten ist auch die Abgrenzung zu häufig komorbid auftretenden dissoziativen, schweren affektiven Störungen und psychotischen Erkrankungen (Schäfer et al., 2019).

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Da ICD-Diagnosen die Grundlage für die ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung in Deutschland darstellen, ist die Aufnahme der KPTBS aus Sicht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), sehr begrüßenswert. Die andauernden, langanhaltenden und multiplen traumatischen Erfahrungen von Geflüchteten nicht nur vor der Flucht, sondern auch während und nach der Flucht lassen sich nun adäquater abbilden und auch von der Regelversorgung adressieren.

Kontextfaktoren und deren Erfassung

Ein entscheidender Fortschritt der aktualisierten S3-Leitlinie PTBS ist die Berücksichtigung von Kontextfaktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer PTBS. Damit ist es möglich, die von diskriminierenden Strukturen gekennzeichnete Lebenssituation von Geflüchteten – die maßgeblich beteiligt ist an der Aufrechterhaltung und Chronifizierung ihrer psychischen Belastungen – sichtbar und damit für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen. So kann eine individuelle Pathologisierung vermieden und stärker an einer Sensibilisierung für und Veränderung von diskriminierenden Strukturen gearbeitet werden. Da diese Faktoren nicht mit dem ICD erfasst werden, empfiehlt die Leitlinie, die „funktionale Gesundheit“ und die besonderen Kontextfaktoren durch eine „strukturierte Klassifikation“ nach der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) zu erfassen. Die ICF ist ein internationales Klassifikationssystem zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen (ICF, 2005). Mit der ICF können die bio-psycho-sozialen Faktoren systematisch erfasst werden. Besondere rechtliche und finanzielle Implikationen für die Behandlung von Geflüchteten können sich ergeben, wenn die Feststellung der funktionalen Gesundheit mit der im SGB IX festgelegten Teilhabeorientierung gekoppelt wird. Gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten ist nicht nur aufgrund von Sprachbarrieren, sondern vor allem aufgrund von Rassismus und struktureller Diskriminierung (z. B. durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, das Integrationsgesetz und das Asylbewerberleistungsgesetz), massiv eingeschränkt. Auch das von den Autor*innen der aktualisierten S3-Leitline in diesem Zusammenhang erwähnte Opferentschädigungsrecht ist für die Arbeit mit Geflüchteten meist nicht anwendbar, da es nur für Menschen gilt, die in Deutschland Opfer von Gewalt geworden sind.

Einschränkungen hinsichtlich der Anwendbarkeit der ICF ergeben sich für die Autor*innen der S3-Leitlinie PTBS durch eine geringe Praktikabilität aufgrund der umfangreichen Kodierung, eine fehlende Kategorisierung der personenbezogenen Kontextfaktoren und eine begrenzte Validität. Sie schreiben, dass die „die Anwendung der Mini-ICF bei psychischen Störungen Praktikabilität gezeigt“ hat. Der BAfF bekannte Messinstrumente, wie der Inklusionschart (IC4, Pantucek-­Eisenbacher & Grigori, 2016), welcher als IC_Flü – ergänzt um die Lebensbedingungen von Geflüchteten – vorliegt (Baron et al., 2015), werden in der S3-Leitlinie nicht erwähnt. In den PSZ wird die IC_Flü bisher in unterschiedlicher Weise angewandt. Es gibt einzelne Erfahrungen, die eine wertvolle Strukturierung der psychosozialen Therapie und Beratung entlang der Kriterien der IC_Flü berichten (Hermühlen & Millies, 2020). Neben der Erhebung relevanter Funktionssysteme zu Beginn der Beratung wird sie teilweise auch zur Verlaufsdokumentation genutzt. Ein flächendeckender Einsatz erfolgt aufgrund des zeitlichen Aufwands bisher nicht. Besonders in Zentren in denen die Verweildauer der Klient*innen in der Sozialberatung gering ist, erscheint bei starkem Versorgungsdruck und in Anbetracht geringer personeller und zeitlicher Ressourcen der Dokumentationsaufwand gegenüber dem Nutzen zu groß. Eine Vereinheitlichung der Anamnese in der Sozialberatung wird angestrebt und weitere Tools finden sich bereits in der Erprobung (z. B. von Refugio München).

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Konkrete Behandlungsempfehlungen

Zur Behandlung der KPTBS empfehlen die Autor*innen eine „Kombination traumafokussierter Techniken […], bei denen Schwerpunkte auf der Verarbeitung der Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse und/oder ihrer Bedeutung liegen […] sowie auf Techniken zur Emotionsregulation und zur Verbesserung von Beziehungsstörungen im Sinne der Bearbeitung dysfunktionaler zwischenmenschlicher Muster“. Bei der PTBS Behandlung empfehlen sie, ergänzend zu traumafokussierten Interventionen, folgende Bereiche abzuklären und in die Behandlung zu integrieren: „das Risiko weiterer Viktimisierung bei Opfern von Gewalt, Aggressivität, Trauerprozesse, soziale Neuorientierung, Neubewertung und Selbstwertstabilisierung“. Bei schweren komorbiden Störungen bzw. Symptomen und akuter Suizidalität wird empfohlen vor der traumafokussierten Therapie andere Techniken (z. B. Emotionsregulations- oder Fertigkeitentraining) einzusetzen. Erstmals ist auch ein eigenes Kapitel zur Diagnostik und Behandlung bei Kindern in der S3-Leitlinie enthalten. Hier gelten die gleichen Behandlungsempfehlungen, ergänzt um die Empfehlung die Eltern in die Behandlung einzubeziehen. Bei jungen unbegleiteten Geflüchteten (UMF) können dies auch Einrichtungsmitarbeiter*innen sein (Schäfer et al., 2019).

Aus Sicht der BAfF, die die teilweise jahrzehntelange Erfahrung von Therapeut*innen in der psychosozialen Praxis repräsentiert, steht aufgrund der komplexen Symptomatik und der unsicheren Lebens- und Aufenthaltssituation von Geflüchteten der Einsatz von traumafokussierten Techniken nicht an erster Stelle (Flory & Teigler, 2017), vor allem, wenn nach Behandlungsabschluss keine weitere Unterstützung stattfinden kann (Steegmann, Steinfurth, & Teigler, in Vorbereitung). Bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere der UMF, wird die empfohlene Einbeziehung von Einrichtungsmitarbeiter*innen in den Mitgliedszentren der BAfF bereits praktiziert.

Versorgungssituation von Geflüchteten

Im Kapitel „Versorgungskonzepte und Versorgungsrealitäten bei Menschen mit PTBS“ beschreiben die Autor*innen, dass „bei komplexen Traumafolgestörungen eine abgestimmte medizinische, psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung“ notwendig ist. Im Unterkapitel zur Behandlung Geflüchteter wird der erschwerte Zugang zur Regelversorgung dargestellt. „Die Bewilligung von Leistungen (Fahrtkosten, Kosten für Sprach- und Kulturmittler*innen) erfolgt oft intransparent und wenig verlässlich. Es müssen unterschiedliche Kostenträger kontaktiert und jeweils müssen die Anträge getrennt begründet werden. Wenn eine dieser Bewilligungen nicht erfolgt, kann eine Therapie meist nicht stattfinden. Aufgrund dieser Schwierigkeiten kommt es oft nicht zu einer notwendigen Behandlung.“ Auch an anderer Stelle werden die Herausforderungen und Versorgungshemmnisse bei Geflüchteten in der Regelversorgung betont: „Studien zur psychotraumatologischen Versorgung von Geflüchteten verweisen insbesondere auf die Problematik der Sprache und der häufig ungeklärten Kostenübernahme“. In dem jährlich erscheinenden Versorgungsbericht der BAfF wird genau diese Situation anhand der Daten der Mitgliedszentren analysiert und dargestellt (Baron & Flory, 2019). Das ganzheitliche, multiprofessionelle Behandlungsangebot der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZ) versucht diese Versorgungslücke zu schließen. Die Versorgungsstrukturen der PSZ sind vielerorts die einzigen Anlaufstellen, die traumatisierte Geflüchtete unbürokratisch und bedarfsorientiert behandeln. Folteropferzentren werden in der S3-Leitlinie explizit als zentrale Versorgungsakteure für Traumafolgestörungen genannt.

Fazit

Insgesamt erscheinen die Neuerungen für die Behandlung von psychisch erkrankten Geflüchteten hilfreich. Die Berücksichtigung der KPTBS, sowie die zusätzliche Erhebung von Kontextfaktoren ermöglicht die Abbildung ihrer häufig komplexen Symptomatik und den diskriminierenden Lebensstrukturen die den Krankheitsverlauf massiv beeinflussen können. Besonders hervorzuheben ist auch die spezifische Betrachtung der Versorgungssituation Geflüchteter. Die S3 Leitlinie zeigt die bisherigen Behandlungshindernisse auf und bietet mit der Etablierung der KPTBS als Diagnose und dem Einbezug der Kontextfaktoren neue Möglichkeiten für die psychotherapeutische Behandlung von Geflüchteten durch die Regelversorgung.

Literaturangaben:

Baron, J., Schriefers, S., Windgasse, A. & Pantucek- Eisenbacher, P. (2015). Daten für Taten: Indikatoren für Inklusion – Die flüchtlingsspezifische Inklusionschart (IC_Flü), Soziales Kapital (13).

Baron, J. & Flory, L. (2019). Versorgungsbericht zur psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern (5), Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, BAfF e.V., Berlin.

Hermühlen, H. & Millies, M. (2020): Die Rolle von psychosozialer Beratung für die Teilhabe von Geflüchteten, Versorgungsbericht zur psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern (6), BAfF e.V., Berlin.

Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen (2005). ICF, Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icf/index.html

ICD-11, KPTBS: https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f585833559

Flatten, G., Gast, U., Hofmann, A., Knaevelsrud, C., Lampe, A., Liebermann, P., Maercker, A., Reddemann, L., Wöller, W. (2011). S3 – Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung. Trauma & Gewalt 3, 202-210.

Flory, L., Teigler, L. (2017): „Was hilft? Wege aus der Isolation. Geflüchtete sprechen über ihre Erfahrungen mit Psychotherapie“

Pantuček-­Eisenbacher, P. & Grigori, E. (2016). Inklusions-Chart, Version 4. http://www.inklusionschart.eu/images/ic/IC4/IC4_Manual.pdf

Schäfer, I., Gast, U., Hofmann, A., Knaevelsrud, C., Lampe, A., Liebermann, P., Lotzin, A., Maercker, A., Rosner, R., & Wöller, W. (2019). S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung. Springer Verlag, Berlin.

Steegmann, S., Steinfurth, E., & Teigler, L. (in Vorbereitung). Kritische Reflektion des Einsatzes von Kurzzeittherapien mit Geflüchteten im Kontext eines PSZ.