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FAQ

Was wird an der Diagnose PTSD aber auch kritisiert?

Im Diskurs um Trauma bei Geflüchteten wird oftmals direkt von der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung gesprochen. Diese Diagnose birgt jedoch auch Missverständnisse und u.a. die Gefahr der Pathologisierung und Stigmatisierung der Betroffenen als „kranke“ oder „gestörte“ Personen. Zu vermeiden ist die Reduktion des Erlebten auf allein neurobiologische Stressreaktionen sowie die Individualisierung der Bearbeitung der Folgen auf die Psyche.

In der klinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive kommt es häufig zu einer Reduktion des traumatischen Erlebens auf neurobiologische Prozesse im Gehirn. Die Ursachen des Traumas werden als starker Stressreiz bezeichnet, der eine Überflutung durch Stresshormone nach sich zieht, mit denen die betroffene Person in der Situation nicht fertig wird. Mit der psychiatrischen Diagnose PTSD wird der betroffenen Person dann eine „Krankheit“ bzw. „Störung“ bescheinigt. Trauma findet allerdings nicht nur im Gehirn statt.

Gesellschaftliche Umstände, politische Gewalt und auch aktuelle prekäre Lebensumstände werden unsichtbar gemacht, wenn wir sie lediglich als Stressreiz beschreiben. Die geflüchtete, traumatisierte Person wird formal nicht mehr als Überlebende*r von Menschenrechtsverletzungen gesehen, sondern als kranker Mensch, der eine Reihe von Symptomen aufzeigt. Diese Kritik an pathologisierenden Interpretationen lässt sich nicht nur auf die Diagnose PTSD beziehen, wird in diesem Kontext aber besonders dringlich. So wird mit der Diagnose zwar anerkannt, dass die erlittene Gewalt grausame Folgen auf die Psyche der betroffenen Person hat, die Bearbeitung dieser Folgen und ihres Ursprungs wird jedoch auf das Individuum abgeschoben und gesellschaftliche Missstände werden privatisiert.

Traumatisierte Personen sind also nicht „gestört“, denn unter Einbezug des traumatisierenden Kontexts wird deutlich, dass diese komplexen Reaktionen der Betroffenen angemessene Reaktionen auf massive Gewalt sind. Daher ist es für den traumasensiblen Umgang mit Geflüchteten unabdingbar, die sozialen und politischen Verhältnisse zu kennen und zu berücksichtigen, und sich nicht allein auf klinische Diagnosen zu beziehen.

Das Trauma wird in der Konzeption der PTSD auch als einzelnes, herausgelöstes Ereignis betrachtet, das eine Anfang und ein Ende hat. Für Menschen, die langandauernde Gewalt erfahren haben, die außerdem mit komplexen, meist unauflöslichen politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen verwoben sind, erweist sich diese Traumakonzeption häufig als unzureichend.

Gleichzeitig kann die Diagnose der PTBS eine Möglichkeit der Anerkennung des Traumas und seiner Folgen bedeuten. Dies kann für Betroffene entlastend sein und sogar als eine Art „Beweis“ ihrer Gewalterfahrungen gesehen werden.

Weitere Informationen finden Sie unter:

Brensell, A. (2013). Trauma als Prozess—Wider die Pathologisierung struktureller Gewalt und ihrer innerpsychischen Folgen. https://www.medico.de/fileadmin/_migrated_/document_media/1/trauma-als-prozess.pdf

Brunner, M. (2015). Trauma und gesellschaftlicher Kontext. Betreuung und Belastung. Herausforderungen bei der psychosozialen Versorgung von Überlebenden der Shoah, 8–17.

Flory, L., Teigler, L., Behrends, M., & Atasayi, S. (2020). Trauma, Empowerment und Solidarität. Wie können wir zu einem verantwortungsvollen und ermächtigenden Umgang mit Trauma beitragen? http://www.baff-zentren.org/news/trauma-empowerment-und-solidaritaet/

medico international. (2000). Schnelle Einsatzgreiftruppe Seele. medico international. https://www.medico.de/download/mi_report-20-scan.pdf

Preitler, B. (2016). An ihrer Seite sein: Psychosoziale Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen (1. Aufl.). StudienVerlag.

Watters, E. (2016). Crazy like us: Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht (1. Aufl.). dgvt-Verlag.

Young, A. (1997). The Harmony of Illusions. Princeton University Press. http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2011/05/ young-the-harmony-of-illusions.pdf