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Abschiebung aus dem Krankenhaus: rechtliche und klinische Einordnung

Als Folge der Abschiebung einer lesbischen Tunesierin aus der psychiatrischen Klinik in Rickling Anfang August, veröffentlicht das Sozialministerium Schleswig-Holstein wenig später eine Anpassung ihres Rückführungserlass, wonach Abschiebungen aus dem Krankenhaus grundsätzlich nicht mehr möglich sein sollen. Damit zieht Schleswig-Holstein eine Konsequenz zum Schutz von besonders vulnerablen geflüchteten Menschen und schließt sich fünf weiteren Bundesländern an, die bereits ähnliche Erlasse formuliert haben.

Warum sind derartige Erlasse überhaupt notwendig?

Abschiebungen sind immer dann unverhältnismäßig, wenn der betroffenen Person dadurch die Gefahr von gravierenden Eingriffen in ihr Recht auf Leib und Leben droht. Das dürfte für Personen, die wegen schwerer psychischer Krisen in stationärer psychiatrischer Behandlung sind, stets der Fall sein.

Im Aufenthaltsrecht ist jedoch die gesetzliche Vermutung festgeschrieben, dass Abschiebungen grundsätzlich keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen, und es kommt in der Praxis immer wieder zu massiven Gesundheitsgefährdungen durch Abschiebungen. Der Bund hat auf diesen Handlungsbedarf bislang nicht mit einer Anpassung der Gesetzeslage reagiert. Auf Länderebene wurden in diesem Zusammenhang entsprechende Erlasse für Ausländerbehörden und Polizeien formuliert, die klarstellen, dass Abschiebungen aus Krankenhäusern grundsätzlich nicht oder nur unter ganz bestimmten Bedingungen durchgeführt werden dürfen.

Die folgende Übersicht des rechtlichen und klinischen Status Quo dient der Einordnung des Themas und sollte politischem Handeln auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene zu Grunde gelegt werden.

Klinische Einordnung

Eine Behandlung in einer psychiatrischen/psychosomatischen Station wird aus klinischer Perspektive dann als notwendig erachtet, wenn ambulante Therapien nicht mehr ausreichen. Diese Einschätzung wird im Regelfall durch die dort tätigen Fachärzt*innen für Psychiatrie/ Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vorgenommen und kann zuvor von psychologischem Fachpersonal eingeleitet worden sein.[3]

Um derart psychisch belastet zu sein, dass eine ambulante Versorgung nicht mehr greifen kann, haben Menschen in der Regel bereits mehrere größere psychische Krisen, darunter auch schwere traumatische Erfahrungen, durchleben müssen. Aus der Praxis der Psychosozialen Zentren ist bekannt, dass Klient*innen eine unvorstellbare Vielzahl an extremen Gewaltsituationen und traumatischen Verlusten überleben können. Doch selbst jene Menschen, die genug innere und äußere Ressourcen haben, um unter der Last des Erlebten nicht zu zerbrechen, werden durch das Erlebte geschädigt und gelten langfristig als vulnerabel[4]. Das Nietzsche-Zitat „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“ mag im Falle von normalen Belastungen zutreffen. Die Forschung geht jedoch davon aus, dass der Effekt einer Traumatisierung sich durch Retraumatisierungen vervielfachen kann[5]. So wird der Aufwand, sich von massiven Eingriffen in die Stabilität der Psyche wieder zu erholen, immer höher und irgendwann kaum noch aufwendbar. Äußere Krisen wie Diskriminierung, psychische, physische und sexualisierte Gewalt, fehlende sichere Unterbringung und Armut, können den Effekt haben, dass der Versuch der selbstständigen Stabilisierung der Psyche nicht mehr glückt.

Die Androhung und Durchführung einer Abschiebung haben ein besonderes Potential der Destabilisierung, da sie der betreffenden Person ihre Zukunftsperspektive nehmen, die sie vielleicht noch als Ressource zum Überleben zur Verfügung hatte. Alle weiteren Aspekte einer Abschiebung – der Zwang, die Anwesenheit der Polizei, die evtl. nächtliche Durchführung – sind einem Gefühl von Kontrolle und Sicherheit ebenfalls nicht zuträglich. Die Psyche der Patient*innen reagiert mit schweren Depressionen, Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung, wie das quälende Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen in Form von Flashbacks, intrusiven Gedanken und Alpträumen, psychotischen Zuständen, Selbstverletzung, Suizidgedanken und Suizidalität.

Nur weil sich ein Mensch im Moment seiner Abschiebung nicht suizidiert oder nicht suizidieren kann, bedeutet dies nicht, dass dieser Eingriff keine langfristige gravierende Verschlechterung seines Gesundheitszustands bewirken kann. Für Menschen, deren psychische Verfassung bereits die oben beschriebene massive Destabilisierung erreicht hat, bedeutet die erzwungene Entfernung aus einer sicheren Umgebung und das Rückführen in einen Kontext, der mit so viel Angst und Gewalt in Verbindung steht – allein auf psychischer Ebene – ein bewusstes Spiel mit dem Tod.

Aktuelle rechtliche Beurteilung  

  • Eine Person muss zum Zeitpunkt der Abschiebung reisefähig sein.
  • Hochrangige Rechtsgüter dürfen nicht erheblich gefährdet sein.
  • Es wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen.
  • Betroffene müssen diese Vermutung deshalb mit Hilfe einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung unverzüglich widerlegen.
  • Verspätete oder unzureichende Atteste werden nicht berücksichtigt, außer die Person konnte unverschuldet eine Bescheinigung nicht besorgen oder es bestehen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde.
  • Besonderheiten im Falle eines Klinikaufenthalts: Wenn sich durch den Abschiebungsvorgang eine Gefahr für Leib und Leben der betroffenen Person ergibt, kann ein rechtliches Abschiebungshindernis unmittelbar aus der Verfassung aus Art. 2 Abs. 1 GG abgleitet werden.[6] Ernsthafte Suizidabsichten können eine Reiseunfähigkeit begründen.

„Eine stationäre Aufnahme bedeutet, dass aus ärztlicher Sicht Anzeichen für eine Erkrankung vorliegen, die der ständigen Überwachung und Kontrolle durch medizinisches Personal bedarf. Wird die Person aus dem Schutzraum Krankenhaus herausgerissen und die Behandlung abgebrochen, besteht die Gefahr einer gravierenden Gesundheitsgefährdung. Zudem lässt sich eine Abschiebungsmaßnahme, bei der mehrere Polizeibeamt_innen beteiligt sind, nicht ohne eine Störung des Krankenhausbetriebs und der übrigen Patient_innen durchführen, sodass die Maßnahme auch in die Rechte unbeteiligter Dritter eingreift. Es ist nicht erkennbar, wie die Gefahr von gravierenden Eingriffen in das Recht auf Leib und Leben der abzuschiebenden Person und der anderen Patient_innen wirksam gemindert werden könnte. Somit ist eine Abschiebung aus der stationären Behandlung stets unverhältnismäßig.“

Einschätzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte[7]

In der Praxis kommt es dennoch immer wieder vor, dass Gesundheitsgefährdungen durch den Abschiebungsvorgang falsch eingeschätzt und Personen abgeschoben werden. Einige Bundesländer haben darauf reagiert und in Erlassen Klarstellungen für diesen sensiblen Bereich formuliert.

Ländererlasse

Die Durchführung von Abschiebungen ist Ländersache. Die obersten Landesbehörden können konkretisierende Anweisungen (Erlasse oder Runderlasse) für die Ausländerbehörden und Polizeien erlassen.

Berlin

  • Abschiebungen aus Krankenhäusern sind grundsätzlich nicht zulässig.
  • Erhält die Polizei erst im Rahmen des Abschiebungsvollzugs Kenntnis von einem stationären Krankenhausaufenthalt, wird die Maßnahme abgebrochen. Dies gilt nur während eines stationären Aufenthaltes, nicht bei ambulanter Behandlung im Krankenhaus (aber Festnahme im Krankenhaus ist ausgeschlossen).
  • siehe Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin (VAB), Stand 03.07.2023 [unter 58.1.0.2]

Brandenburg

Bremen

  • Aus besonders sensiblen Bereichen wie medizinischen Einrichtungen soll regelmäßig nicht abgeschoben werden.
  • Sensible Bereiche sind u.a. Nichtstaatliche Beratungsstellen, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Medizinische Einrichtungen (außer Forensik, inkl. Geschlossene Abteilung der Psychiatrie).
  • wenn abgeschoben werden soll: Vorab zeitgerechte Information einer verantwortlichen Person des Bereiches über beabsichtigten Einsatz
  • siehe: Regelung vom 28.10.2020

Rheinland-Pfalz

  • Bei Kenntnis eines Krankenhausaufenthaltes hat die Behörde eine eigene Aufklärungspflicht.
  • Im Einzelfall ist zu prüfen, ob eine Duldung zu erteilen ist.
  • Der Hinweis hinsichtlich des Erfordernisses einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung ist zu erteilen.
  • Im Regelfall erfolgt Beurteilung nach der Entlassung aus dem Krankenhaus.
  • wenn abgeschoben werden soll:
    • Frühestmöglich Kontakt mit Klinik
    • Eine Durchführung der Maßnahme kommt nur in Betracht, wenn spätestens zum Zeitpunkt der Abschiebung die stationäre Behandlung beendet ist (VG Neustadt a. d. Weinstraße, Beschluss vom 19. April 2017, Az.: 2 N 457/17.NW und Beschluss vom 26. März 2019, Az.: 2 N 265/19.NW).
    • Prognose über Zeitpunkt der Entlassung
    • Ergibt sich entgegen der Prognose kurzfristig ein weiterer stationärer Behandlungsbedarf, steht dies dem Vollzug der Abschiebung entgegen.
    • Ausnahmsweise unmittelbar aus Krankenhaus nach Beendigung nur unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und in enger Abstimmung mit dem Krankenhaus
    • Nach Entlassung erfolgt erneut die grundsätzliche Prüfung der Reisefähigkeit.

Schleswig-Holstein

  • Bei Kenntnis eines stationären Krankenhausaufenthalts liegt im Regelfall ein Abschiebungs-/Überstellungshindernis vor.
  • Zur Prüfung der näheren Umstände besteht eine eigene Aufklärungspflicht der Behördezur Feststellung im konkreten Einzelfall.
  • In der Regel ist Entlassung abzuwarten, mit anschließender Beurteilung, ob und mit welchen Maßgaben die Rückführungsplanungen anzupassen sind sowie erneuter Feststellung der Reisefähigkeit.
  • wenn abgeschoben werden soll:
    • Vorliegen besonderer Gegebenheiten im Einzelfall
    • Umgehende Kontaktaufnahme mit Krankenhaus
    • Prognose über Zeitpunkt der Entlassung auf Grundlage der Einschätzung der*des behandelnden Ärzt*in
    • Ergibt sich entgegen der Prognose ein weiterer stationärer Behandlungsbedarf, steht dies dem Vollzug der Abschiebung entgegen.
    • Ausnahmsweise unmittelbar aus Krankenhaus unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in enger Abstimmung mit dem Krankenhaus

Thüringen

Transport- und Flugunfähigkeit liegt bei einem medizinisch indizierten stationären Krankenhausaufenthalt vor.

Keine Durchführung von Abschiebungen naher Angehöriger, wenn aufgrund von Besonderheiten im Einzelfall humanitäre Gründe (z.B. Entbindung, schwere Erkrankung) dagegensprechen.

Als Nachweis ist einfache ärztliche Bescheinigung ausreichend, bei Fehlen einer solchen besteht eine Aufklärungspflicht der Behörde. Allein bei Anhaltspunkten ist die Abschiebung aus humanitären Gründen nicht durchzuführen

Abschiebungen aus Einrichtungen der stationären Jugendhilfe sind grundsätzlich unzulässig.


Schlussfolgerungen

Abschiebungen aus stationär-psychiatrischer Behandlung sind aus klinischer Sicht nicht akzeptabel – so hat es auch die Bundesdirektorenkonferenz – der Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie – formuliert[9]. Wie gut Geflüchtete vor Gefährdungen durch diesen Eingriff in ihrem Recht auf Leib und Leben geschützt werden können, ist abhängig davon, in welchem Bundesland sie leben. Grundsätzlich haben aber alle Geflüchteten das Recht, schwere Erkrankungen geltend zu machen, um eine ihr Leben und ihre Gesundheit gefährdende Abschiebung zu verhindern. Aktuell können sie dieses Recht aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zum Nachweis von Erkrankungen nicht wahrnehmen. Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen in der stationären und ambulanten Versorgung sind regelmäßig damit konfrontiert, dass ihre Expertise nicht berücksichtigt wird.

Was braucht es?

Anerkennung ärztlicher und psychotherapeutischer Expertise im asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren

Im Juni 2023 veröffentlichte die BAfF gemeinsam mit den Fachverbänden ackpa, BDK, BPtK, DGPPN und DeGPT eine gemeinsame Stellungnahme zur Anerkennung ärztlicher und psychotherapeutischer Expertise in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren. Es wurden gesetzliche Änderungen in 3 zentralen Punkten gefordert:

Die Ermittlungspflicht muss bei den Behörden liegen

Überhöhte Nachweisanforderungen auf Seiten der Patient*innen stellen sonst eine unverhältnismäßige Benachteiligung dar.

Die Kosten für die anspruchsvollen Nachweise müssen von den zur Ermittlung verpflichteten Behörden getragen werden

Patient*innen sind mangels finanzieller Mittel und fehlendem Zugang zur Versorgung in der Regel nicht in der Lage, die Nachweise vorzubringen.

Stellungnahmen von Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen sollen berücksichtigt werden

Der aktuelle Gesetzeswortlaut fordert eine so genannte qualifizierte ärztliche Bescheinigung und schließt somit Gutachten von Psychotherapeut*innen aus, was die zeitnahe Begutachtung von Patient*innen verunmöglicht.


[1] Mehr Informationen zum Fall: https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Rickling-Abschiebung-aus-Klinik-nach-Suizidversuch-sorgt-fuer-Kritik,abschiebung978.html

[2] Zur Reaktion der Sozialministerin: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/schleswig-holstein_magazin/Ministerin-Aminata-Toure-stoppt-Abschiebungen-aus-Kliniken,shmag107572.html

[3] Positionspapier von BAfF, BPtK, ackpa, dgppn, DeGPT, Bundesdirektorenkonferenz : „Ärztliche und psychotherapeutische Expertise berücksichtigen“ (Juni 2023)

[4] Stellungnahme der BAfF zum Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (Asylpaket II): Zur Beschleunigung der Verfahren im Asylgesetz (AsylgLG) (Februar 2016)

[5] vgl. Kaysen, D., Rosen, G., Bowman, M., & Resick, P. A. (2010). Duration of exposure and the dose-response model of PTSD. Journal of interpersonal violence, 25(1), 63–74.

[6] Jentsch, Oda: Krankheit als Abschiebungshindernis: https://www.asyl.net/fileadmin/user_upload/publikationen/Arbeitshilfen/2020-10_Broschuere_Krankheit_Abschiebungshindernis_2Aufl.pdf, S. 46.

[7] Suerhoff, Anna / Engelmann, Claudia (2021): Abschiebung trotz Krankheit. Perspektiven aus der Praxis und menschenrechtliche Verpflichtungen. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte [DIMR], S. 43f.

[8] Dazu [DIMR], S. 36:  „Bremen hat als einziges Bundesland die Sachaufklärungspflicht der Ausländerbehörde unabhängig von der Vorlage eines qualifizierten Attests in einem Erlass konkretisiert: Bei Hinweisen auf eine Suizidalität soll das Gesundheitsamt auch dann eine fachärztliche Begutachtung durchführen, wenn eine private Bescheinigung nicht den Anforderungen entspricht oder zu spät eingereicht wurde. Bei fachärztlichen Gutachten einer psychiatrischen Klinik sei eine Begutachtung durch das Gesundheitsamt zudem in der Regel nicht erforderlich.“

[9] Koch, E., Assion, H. J., Gün, A. K., Bornheimer, B., Wehmeier, P. M., & Claus, S. (2019). Bericht des Arbeitskreises Migration. Psychiatrische Praxis46(05), 299-299.