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Verlängerte Leistungseinschränkungen schaden Geflüchteten und dem Staat

Zur am 20.03.24 veröffentlichten DIW-Studie von Dr. Louise Biddle zum verlängerten Anspruch auf eingeschränkte Gesundheitsleistungen nach AsylbLG

Ein populistisches Narrativ, das zuletzt immer salonfähiger wurde, besagt, Geflüchtete würden im großen Stil Sozialleistungen vom deutschen Staat erhalten und das dem deutschen Staat erheblich schaden. Dieser Scheinargumentation bedienen sich inzwischen nicht mehr nur die bekannten ultrarechten Parteien, sondern auch die CDU. Deren Chef Friedrich Merz behauptete unter anderem im letzten Herbst vor laufender Kamera, abgelehnte Asylbewerber*innen würden bevorzugt Zahnbehandlungen in Anspruch nehmen können, während deutsche Staatsbürger*innen keine Termine bekämen – und wurde dafür von der Linken-Politikerin Daphne Weber wegen Volksverhetzung angezeigt.

Gesundheitswissenschaftler*innen der Uni Bielefeld haben diese Falschbehauptungen erneut klar widerlegt. Weitere aktuelle Studien zeigen, dass der neue, immer restriktiver werdende Kurs der Asylpolitik nicht nur der Gesundheit der Geflüchteten in Deutschland erheblich schadet, sondern daneben auch überhaupt nicht wirtschaftlich ist. Die Autor*innen eines Ende März 2024 in The Lancet veröffentlichten Artikels kommen zu dem Schluss, dass diskriminierende und restriktive Integrations- und Gesundheitspolitik zu sozialer Ausgrenzung führen können, was sich wiederum negativ auf die Gesundheit von Schutzsuchenden auswirkt.

Eine der aktuellsten deutschen Studien, veröffentlicht von Dr. Louise Biddle, analysiert auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung erstmalig Belastungen des Gesetzes nach Personengruppen.

Informationen zu Studie und Thematik auf einen Blick

Wie verlässlich sind die Daten des SOEP?

Der Wissenschaftsrat hat die Forschungsqualität des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) 2008 als exzellent eingestuft. Weltweit ist das SOEP eine der größten und am längsten laufenden multidisziplinären Panelstudien, die sich vor allem mit verschiedenen Aspekten des gesellschaftlichen Wandels beschäftigt. Jährlich werden dafür aktuell ca. 30.000 Menschen in rund 15.000 Haushalten befragt. Daneben ist das SOEP eine forschungsbasierte Infrastruktureinrichtung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, die unter dem Dach der Leibniz-Gemeinschaft vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und den Ländern gefördert wird. Das SOEP-Team, zu dem auch die Studienautorin Dr. Louise Biddle gehört, betreibt eigene Forschung und bereitet die SOEP-Befragungsdaten auf.

Wie wurden die Daten erhoben?

Für den Bericht „Verlängerte Leistungseinschränkungen für Geflüchtete: Negative Konsequenzen für Gesundheit – erhoffte Einsparungen dürften ausbleiben“ dient die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten als Grundlage, ein Kooperationsprojekt des SOEP mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das Projekt erhebt welches repräsentative Daten zu Geflüchteten, die von 2013 bis 2020 nach Deutschland eingereist sind.

Detaillierte Infos zu Datengrundlage und Methodik in Kasten 2 des DIW-Berichts.

Wer hat welche Ansprüche und wartet bisher schon wie lange auf regulären Zugang zum Gesundheitssystem?

Asylsuchende sind nach ihrer Ankunft in Deutschland bis zu 36 Monate (bis 02/2024: 18 Monate) lang nicht gesetzlich krankenversichert. So lange besteht nur Anspruch auf eingeschränkte medizinische Leistungen nach dem AsylbLG, d. h. „im Krankheitsfall (bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen) mit ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung […] (vgl. § 4 AsylbLG)“. Weiterführende Gesundheitsleistungen können gemäß § 6 im Einzelfall gewährt werden, solange sie „zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlich“ sind. So bietet das AsylbLG einen großen Ermessensspielraum, weil es weder „akute Schmerzzustände“ nach § 4, noch die „Unerlässlichkeit“ der Versorgung nach § 6 genauer definiert. Ärzt*innen müssen dann einschätzen, ob „akute Schmerzzustände“ und/oder „Unerlässlichkeit“ vorliegen und Sozialämter entscheiden, ob die Behandlung bezahlt wird.

Erst nach Ablauf einer Wartezeit von 36 Monaten haben Geflüchtete den gleichen Anspruch auf Gesundheitsleistungen wie Sozialhilfeempfänger*innen (SGB XII). Personen mit einem Aufenthaltstitel erhalten die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Für Geflüchtete aus der Ukraine gelten gesonderte Regelungen.

Wer wird durch das Gesetz am stärksten belastet?

Besonders stark betreffen die Verschärfungen der Asylpolitik mit all ihren Konsequenzen Geflüchtete mit niedrigem Bildungsstand und geringen Deutschkenntnissen, fand die DIW-Studie heraus. Die Verlängerung der Leistungseinschränkungen belastet zudem besonders stark chronisch kranke sowie traumatisierte Geflüchtete, die mit psychischen Folgen leben, welche ggf. nicht als akute Notfälle gelten. Deren Behandlung wird gemäß der Öffnungsklausel § 6 AsylbLG von den Sozialbehörden genehmigt oder verwehrt.

Was bedeutet es, dass in den Sozialbehörden de facto medizinische Lai*innen über Behandlungen entscheiden?

Ein Behandlungsschein wird üblicherweise nur für einen begrenzten Zeitraum von den Sozialbehörden ausgestellt (oft für ein Quartal), was für beide Seiten, geflüchtete Menschen und Behörde, fortlaufenden bürokratischen Aufwand sowie zeitliche Verzögerungen für die Patient*innen bedeutet. Die Behörde bewilligt (oder verwehrt) dann nach Ermessen mehr oder weniger restriktiv medizinische Behandlungen nach § 6 AsylbLG und legt deren Umfang fest; sie kann weitere Leistungseinschränkungen vermerken und konkrete Ärzt*innenpraxen vorgeben. Das AsylbLG bietet einen großen Ermessensspielraum, weil es weder „akute Schmerzzustände“ nach § 4, noch die „Unerlässlichkeit“ der Versorgung nach § 6 genauer definiert. Neben einer Konformität mit dem AsylbLG prüft die Behörde dabei auch die medizinische Notwendigkeit des Ärzt*innentermins. Wenn Lai*innen entscheiden, ob medizinische Eingriffe oder Termine nötig sind und bezahlt werden, ist es möglich, dass dringend benötigte Behandlungen nicht gewährleistet werden.

Gibt es erprobte Beispiele für Alternativen?

Ein Beispiel ist das sogenannte „Bremer Modell“, das die eGK für die den Kommunen zugewiesenen Geflüchteten mit der gleichzeitigen Möglichkeit freiwilliger Inanspruchnahme medizinischer Sprechstunden in Wohn- und Unterbringungsheimen kombiniert. Das Ziel des Bremer Gesundheitsprogramms ist bereits seit 1993 eine umfassendere Gesundheitsversorgung für Geflüchtete, die bessere Zugangschancen zum Gesundheitssystem implementiert. 2005 hat Bremen das Abrechnungssystem für Geflüchtete mittels elektronischer Gesundheitskarte (eGK) eingeführt. Aktuell gilt die eGK aber nur in sechs Ländern flächendeckend (Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Thüringen, Schleswig-Holstein) und in drei weiteren Ländern in einzelnen Kreisen oder Kommunen.

Was würde alle Beteiligten entlasten und Kosten reduzieren?

Gemäß der DIW-Studienergebnisse wäre es wesentlich sinnvoller für die Gesundheit Betroffener und für den deutschen Finanzhaushalt, die Dauer der Einschränkungen im Gesundheitssystem für Geflüchtete zu verkürzen, anstatt sie zu verlängern.

Die bundesweite Einführung der eGK für Geflüchtete würde außerdem den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleichtern. Sie erfordert weniger bürokratischen Aufwand für Patient*innen, Ärzt*innen und Ämter, schafft Klarheit über den Umfang von Gesundheitsleistungen und minimiert Wartezeiten für Behandlungen. Zudem wird nach eGK-Einführung die Primärversorgung stärker und die Notfallversorgung weniger genutzt. Von diesen Änderungen würden allgemeiner und insbesondere psychischer Gesundheitszustand von Geflüchteten, aber auch die Kommunen stark profitieren.

Schaden für die Gesundheit und für den Staat

Von populistischen Tendenzen geleitet, hat die Ampelregierung zuletzt Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und Asylgesetz (AsylG) beschlossen. Die damit einhergehenden und im Februar 2024 inkraft getretenen verlängerten Leistungseinschränkungen für Schutzsuchende in Deutschland erhöhen die Kosten für den Sozialstaat und damit auch für die Bürger*innen deutlich, wie die DIW-Studie von Dr. Louise Biddle zeigt. Denn verlängerte Leistungseinschränkungen bedeuten auch eine spätere Behandlung von Erkrankungen. Und das erfordert oft einen teureren Behandlungsansatz, stellt die DIW-Studie fest – was im Endeffekt teurer für den Sozialstaat ist, als geflüchtete Menschen sofort medizinisch angemessen zu behandeln. Denn die Kosten steigen durch beispielsweise schwerere und verlängerte Krankheitsverläufe, ursprünglich vermeidbare Krankenhausaufenthalte sowie aufwendigere Diagnostiken und Therapien deutlich an.

Wartezeit bis zur Regelversorgung wird verdoppelt

Und doch wird die tatsächliche Wartezeit, bis Geflüchtete in die medizinische Regelversorgung aufgenommen werden, nun ungefähr verdoppelt. Und das, obwohl sie zuvor bereits bei über einem Jahr lag, wie Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen. Die maximale Zeit der Leistungseinschränkungen nach Ankunft in Deutschland darf zukünftig ganze 36 anstatt wie bisher 18 Monate betragen, das heißt, Asylsuchende haben grundsätzlich nur im Fall akuter Erkrankungen und Schmerzzustände Anspruch auf eine medizinische Behandlung (§§ 4, 6 AsylbLG). Das sind bis zu drei Jahre, in denen schutzsuchende Menschen nur in Notfällen zu Ärzt*innen gehen dürfen.

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Keine angemessene Gesundheitsversorgung trotz Traumatisierung

Viele Geflüchtete haben in ihren Herkunftsländern, auf der Flucht und/oder nach ihrer Ankunft in Deutschland Krieg, Folter und schwere Gewalt erlebt, viele sind sogar mehrfach traumatisiert. Obwohl Menschen mit Traumata und anderen psychischen und körperlichen Belastungen dringend Hilfe benötigen, erhalten diese nun künftig erst nach zwei oder drei Jahren. Es lässt sich ausmalen, was das für die Gesundheit von Betroffenen bedeutet: schwere Krankheitsverläufe sind wahrscheinlicher, wenn nur verspätet und notfallmäßig behandelt wird. Und schon in den letzten Jahren haben nur rund vier Prozent der psychisch erkrankten in Deutschland Schutz Suchenden psychosoziale Versorgung erhalten können.

© DIW Berlin, 2024

Vereinfachter Zugang zur Gesundheitsversorgung sinnvoller und günstiger als verlängerte Einschränkungen

Während dieser – nun verdoppelten – Wartezeit erhalten leider auch nur knapp 20 Prozent der Schutzsuchenden eine elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete (eGK), die den Zugang zur Gesundheitsversorgung in einigen Bundesländern etwas erleichtert, indem sie administrative Barrieren verringert. Hamburg beispielsweise konnte innerhalb von nur einem Jahr ungefähr 1,6 Millionen Euro durch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sparen, wie eine Auswertung von Burmester (2014) zeigt. Diese enorme Summe kam zustande durch den Wegfall von mit der Ausstellung von Krankenscheinen verbundener Bürokratie, Einsparungen an Personal-, Raum- und IT-Kosten. Trotzdem eine Verwaltungskostenpauschale an die Krankenkassen gezahlt werden muss, ließen sich mit der flächendeckenden Einführung der eGK also große Summen einsparen.

Die DIW-Studie fordert die bundesweite Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zudem, um die negativen Konsequenzen des Asylbewerberleistungsgesetzes für die Gesundheit abzufedern. Wenn politisch erwünscht, könnte die elektronische Gesundheitskarte sicherlich ähnlich schnell in die Praxis umgesetzt werden wie die umstrittene Bezahlkarte für Geflüchtete.

Denn der nun noch stärker verzögerte Zugang reduziert keinesfalls die Kosten für das deutsche Gesundheitssystem, wie die DIW-Studie deutlich belegt. Vielmehr verstärkt er gesundheitliche Schäden bei Geflüchteten, kostet dadurch Lebensqualität und teilweise Menschenleben, während er die Kosten und die Belastung des Gesundheitssystems in Deutschland langfristig erhöht.