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„Vorbild Ukraine?“ Hilfesysteme der Zukunft

Handlungsbedarfe in der psychosozialen Versorgung geflüchteter Kinder und Jugendlicher

Fluchterfahrungen wie das Erleben von Krieg und Verfolgung sind mit Gefühlen der Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden und können zu extremen psychischen Belastungen führen, die potentiell traumatisierend sind. Das gilt besonders bei Kindern und Jugendlichen, die sich in einer sensiblen Phase befinden und mit Entwicklungsaufgaben konfrontiert sind – d.h., für im Moment mehr als ein Drittel der in Deutschland ankommenden Asylsuchenden und zusätzlich für die fast 350.000 minderjährigen Schutzsuchenden aus der Ukraine. All diese Kinder und Jugendlichen müssen nach einschneidenden und oft andauernden Bedrohungs- und Verlusterfahrungen sozial und gesellschaftlich aufgefangen werden, damit sie sich – soweit es möglich ist – von ihnen erholen können. Dazu gehören an erster Stelle sicheres Wohnen mit Privatsphäre und Zugang zu Beratung, Gesundheitsversorgung und Bildung.

Diese Schutzrechte nach der UN-Kinderrechtskonvention durchzusetzen, ist eine Aufgabe, die in der Ausnahmesituation direkt nach Ankunft in Deutschland vor allem in den Händen des Aufnahme-, Unterbringungs-, Jugendhilfe- und Gesundheitssystems liegt: Die für die Strukturen, Abläufe und die Versorgungsqualität der Angebote in diesen Hilfesystemen verantwortlichen Akteur*innen sind verpflichtet, sicherzustellen, dass die je individuellen Schutzbedarfe der betroffenen Personen hilfesystemübergreifend identifiziert werden und ihnen Zugang zu geeigneten Unterstützungs- bzw. Versorgungsangeboten angeboten wird.

Fachkräfte im Aufnahme-, Unterbringungs-, Jugendhilfe- und Gesundheitssystem waren und sind infolge der Fluchtbewegung aus der Ukraine mit Herausforderungen konfrontiert – einige von ihnen sind neu, andere hingegen Ausdruck struktureller Versäumnisse, die bereits seit vielen Jahren bestehen. Die BAfF als Fachverband für Flucht und psychosoziale Gesundheit hat für die Aufnahme und Versorgung von Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine – und daraus folgend aus allen anderen Herkunftsländern, aus denen minderjährige Menschen mit oder ohne erwachsene Begleitpersonen fliehen müssen – Handlungsfelder identifiziert.

Die Analysen der BAfF als Fachverband für Flucht und psychosoziale Gesundheit haben für die Aufnahme und Versorgung von Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine – und daraus folgend aus allen anderen Herkunftsländern, aus denen minderjährige Menschen mit oder ohne erwachsene Begleitpersonen fliehen müssen – Handlungsfelder identifiziert.

Unsere Lernerfahrungen aus der aktuellen Aufnahmesituation sowie die Transfer- und übergeordneten Gestaltungspotentiale für politisches Handeln finden sich in unserer Abschlusspublikation.

Lernerfahrungen

Wissens- und Vernetzungsbedarfe in den Hilfesystemen

  • Akteur*innen kommunizieren hilfesystem-übergreifend, dass sie Grundwissen zur Identifizierung und Vermittlung besonders vulnerabler, psychisch belasteter Kinder und Jugendlicher benötigen: im Clearing, in Gemeinschaftsunterkünften, im schulischen Bereich, bei Ehrenamtlichen und in der Verwaltung. Dies betrifft qualitativ sowohl den traumasensiblen Umgang und das dolmetschergestützte Arbeiten mit Betroffenen als auch ihre Rechtsansprüche, Abrechnungsmodalitäten, spezialisierte Anlaufstellen, die Kommunikation mit Vormünder*innen u.v.m. 
  • Der Bedarf an Sensibilisierung, Schulung und Beratung von Fachkräften ist hoch, wird punktuell durch erfahrene Initiativen adressiert, aber es geht sehr viel Wissen verloren, weil keine behördlichen Vorgaben oder Standards bestehen, kontinuierlich neues und z.T. fachfrendes Personal mit hochkomplexen Bedarfs- und Rechtsgefügen konfrontiert wird und keine koordinierenden Instanzen existieren, die parallele Prozesse koordinieren und im Sinne der Minderjährigen zusammenführen. 
  • Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten entlang der Versorgungspfade sind häufig unklar oder es fehlt an Modalitäten für Abstimmugs- und Austauschformaten zum gemeinsamen Case-Management. Versorgungsaufträge und bürokratische Prozesse z.B. zur Abrechnung von Leistungen sind mitunter nicht bekannt oder in der Praxis hochkompliziert.  
  • Behandler*innen benötigen ein Commitment und leistungsträgerseitig autorisierte Handreichungen, die ihnen Rechtssicherheit geben. 

Transfer- und Anpassungspotentiale 

Strukturell-rechtliche Gleichbehandlung im Zugang zum Gesundheitssystem 

  • Der formal uneingeschränkte Zugang zur Primär- und psychotherapeutischen Grundversorgung durch einen Anspruch auf Leistungen im Umfang der GKV ist eine unabdingbare Grundvoraussetzung dafür, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche ihre völker- und grundrechtlich verbrieften Rechte auf Gesundheit und die Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten bzw. zur Wiederherstellung der Gesundheit wahrnehmen können.  
  • Die Barrieren, die sich für ukrainische Kinder und Jugendliche trotz ihrer formalen Gleichstellung mit deutschen Staatsbürger*innen abzeichnen, zeigen umso deutlicher, dass dies auf deutschem Staatsgebiet für jedes Kind unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus gemäß der UN-Kinderrechtskonvention, dem UN-Sozialpakt und der EU-Aufnahmerichtlinie als Mindeststandard als Anspruch in nationales Recht überführt werden muss.  
  • Ohne eine Integration aller Schutzsuchenden in das System der Gesetzlichen Krankenversicherung kann dies kaum erwirkt werden. 

Nachhaltige Kapazitätsplanung 

  • Der Abbau von Unterstützungsstrukturen in den letzten Jahren in Kombination mit den zahlreichen pandemiebedingten zusätzlichen Bedarfen hat in der kinderärztlichen, der sozialpsychiatrischen und insbesondere der psychosozialen Versorgung zu massiven Engpässen geführt. Ukrainische Kinder und Jugendliche waren davon direkt und recht schnell nach ihrer Ankunft betroffen.  
  • Gleichzeitig ist bekannt, dass viele Heranwachsende, die Traumatisches erlebt haben, erst mit zeitlicher Verzögerung Belastungen entwickeln oder eine gewisse Zeit brauchen, bis sie Unterstützung suchen. Dies sollte im Sinne einer vorausschauenden Bedarfsplanung für den nachhaltigen Ausbau der Versorgungskapazitäten berücksichtigt werden. 

Hilfesystem-übergreifende Vernetzung und Sensibilisierung  

  • Die Reaktion auf die Fluchtbewegung aus der Ukraine zeigt beispielhaft, wie wichtig eine schnelle und breite Vernetzung und Sensibilisierung der Akteur*innen aus dem Unterbringungs- und Jugendhilfesystem, der pädiatrischen Versorgung, der Frühen Hilfen sowie aus dem Bildungs- und psychosozialen Versorgungssystem sind, damit Kinder und Jugendliche im Umgang mit Gewalt-, Verlust- und weiteren Belastungssituationen aufgefangen und bei der Verwirklichung ihrer Zukunfts- und Bildungsperspektiven unterstützt werden können. 
  • Um den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und die Erreichbarkeit durch zielgruppenspezifische Präventionsangebote zu gewähren, sollten aufsuchende Angebote, qualifizierte Sprachmittlung und mehrsprachige Informationen bei Aufklärung und Versorgung eingerichtet werden.  
  • Hilfesysteme der Zukunft brauchen Ressourcen, Kontakte und klare Zuständigkeiten für ein koordiniertes Handeln der Fachkräfte. Expert*innen für diese Handlungsfelder müssen ebenso wie Vertreter*innen aus Communities in Krisenstäbe, Runde Tische sowie die Konzeptualisierung, Umsetzung und kontinuierliche Weiterentwicklung der Abläufe und Versorgungspfade einbezogen werden. Informationsmaterialien zu Rechten und Anlaufstellen müssen gemeinsam beworben werden, z.B. durch Kommunen und Träger. 

Community-orientierte Bedarfsorientierung und Anpassung von Unterstützungsangeboten 

  • Die Integration ukrainischer Therapeut*innen in die Teams der Psychosozialen Zentren für Geflüchtete (PSZ) zeigt beispielhaft, wie zentral die Einbindung der professionellen sowie der Selbstorganisationsexpertise aus geflüchteten Communities für die Entwicklung und kontinuierliche Anpassung von Unterstützungsangeboten ist. Sie bedarf personeller und finanzieller Ressourcen und eines regions- und berufsgruppenübergreifenden Austauschs, damit Regel- und etablierte Nichtregierungsstrukturen ineinandergreifen und gemeinsam zukunftsfähige Strukturen aufbauen können. Bundesweit vernetzte Intervisions- und Austauschformate ukrainischer Therapeut*innen in den Psychosozialen Zentren und die Anbindung an die jahrzehntelange Erfahrung der Kolleg*innen in ihren Teams verweisen dabei auf ein hohes Transferpotential auch für Vernetzungsformate mit Bildungs-, Jugendhilfe sowie regulären ambulanten und stationären gesundheits- und sozialpsychiatrischen Versorgungsstrukturen. 

Sprachmittlung 

  • Das hohe selbstorganisierte Engagement der ukrainischen Community hat viele Sprachbarrieren – auch im Zugang zum Gesundheitssystem – überbrückt. Für die Lots*innen- und Orientierungsfunktion im Sozialraum und den Hilfesystemen verweist dies auf ein gewisses Transferpotential, von dem auch andere Geflüchteten-Communities profitieren würden.  
  • Insbesondere für sensible ärztliche und psychotherapeutische Kontexte zeigte sich jedoch sehr deutlich, dass es auf struktureller und kapazitärer Ebene Lösungen für professionelle Sprachmittlung braucht – auch ukrainische Kinder und Jugendliche fanden trotz formaler Besserstellung kaum Zugang in weiterführende Behandlungsangebote, weil nicht ausreichend muttersprachliche oder dolmetschergestützte Angebote verfügbar waren. 
  • Für Menschen ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen sollte – vergleichbar mit den Regelungen zum Gebärdendolmetschen – ein Anspruch auf Sprachmittlung im sozialen, rechtlichen und gesundheitlichen Bereich verankert werden. Dieser muss im Sinne des Kindeswohls alters- und aufenthaltsunabhägig gelten, damit Heranwachsende, die schnell Deutsch lernen, nicht mehr als ad-hoc-Dolmetscher*innen für ihre Eltern hinzugezogen werden. 

Vernetzung mit der Zivilgesellschaft als Voraussetzung für niedrigschwellige und bedarfsgerechte Zugänge 

  • Die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen und selbstorganisierter ukrainischer Initiativen und Einzelpersonen, die auch im Gesundheitsbereich für ukrainische Kinder und Jugendliche aktiv waren, haben entscheidend dazu beigetragen, dass Heranwachsende im Kontext ihrer gesamten Lebenslage wahrgenommen und unterstützt werden konnten (z.B. in Bezug auf ihre Bedarfe nach einer sicheren Wohnumgebung, der Anbindung an Freizeit-, Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten, Veranstaltungen und Organisationsmöglichkeiten, aber auch die Vermittlung an medizinische Versorgung, Krisendienste und spezialisierte psychosoziale Unterstützung).  
  • Viele dieser Angebote wurden durch die schnelle und unbürokratische Unterstützung sowohl durch privates oder genossenschaftliches Kapital, vor allem aber auch durch Projektfördermittel und Spendengelder ermöglicht. Schnell interveniert werden konnte dennoch vor allem durch diejenigen Akteur*innen, die bereits räumliche, finanzielle und supervisorische Strukturen, Kontakte und qualifiziertes Personal in den Aufbau einbinden konnten und gut sowohl mit den Communities vor Ort als auch mit der kommunalen Verwaltung vernetzt waren. Diese Modelle sollten als Vorbild nicht allein für Krisenstäbe, sondern insbesondere auch für Gremien dienen, die langfristig und gemeinsam an der Ausgestaltung der Aufnahme-, Integrations- und Versorgungsbedingungen für (junge) Geflüchtete arbeiten. 

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