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Georgien und die Republik Moldau sind keine „sicheren Herkunftsstaaten“

Der Bundestag berät am 12.10. erstmals den Kabinettsentwurf zur Aufnahme von Georgien und Moldau in die Liste „sicherer Herkunftsstaaten“ – obwohl in diesen Ländern längst nicht alle Bevölkerungsgruppen vor Verfolgung geschützt sind. Darauf haben zahlreiche Fachverbände bereits im August verwiesen, bevor der Kabinettsentwurf im Eilverfahren beschlossen wurde. Nun steht in der sich überschlagenden Debatte darüber hinaus zur Disposition, auch Armenien, Marokko, Tunesien, Algerien und Indien als „sicher“ zu erklären.

Mit einer gesetzlichen Vermutung auszuschließen, dass in diesen Staaten Verfolgung stattfindet, ist im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl. Menschen, die aus diesen Ländern fliehen müssen, haben dadurch de facto keine Möglichkeit der individuellen Prüfung ihres Asylgesuchs: Anstelle des regulären Asylverfahrens durchlaufen sie ein beschleunigtes Verfahren, das insbesondere traumatisierte und erkrankte Geflüchtete massiv benachteiligt. Sie können ihre Geschichte und die von ihnen erlittenen Menschenrechtsverletzungen nicht rechtzeitig als Asylgründe vorbringen.

„Vulnerable Personen haben in beschleunigten Asylverfahren de facto keine Chance, ihre Schutzreche zu verwirklichen. Mit der Fiktion „sicherer“ Herkunftsstaaten setzt Deutschland ihre Marginalisierung und Entrechtung strukturell fort.“

Alva Träbert, Referent*in für besondere Schutzbedarfe

Weil auch die Klage- und Ausreisefrist bei als „offensichtlich unbegründet“ bewerteten Asylanträgen nur noch eine Woche beträgt, droht zahlreichen Geflüchteten die Abschiebung, bevor ihr Schutzbedarf überhaupt festgestellt werden konnte. In vielen Fällen kommt das einer Gefährdung von Leib und Leben gleich. 

Die BAfF fordert die Bundesregierung und den Bundestag auf, den Gesetzentwurf zurückzuziehen.

In einem Bündnis aus 26 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Deutschland, Europa und der Welt haben wir uns am 11.10.23 mit einer Stellungnahme des LSVD an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gewandt: https://www.lsvd.de/media/doc/10390/2023-10-11_stellungnahme_georgien_und_moldau.pdf

Dass der Gesetzentwurf weder aus juristischer, länderspezifischer noch aus klinischer Sicht tragbar ist, haben wir – wie viele andere Fachverbände auch – bereits im August ausführlich dargelegt.

[Die durch die BAfF zum 25.8. eingereichte Stellungnahme als PDF]

Bereits mit der Zustimmung zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) nimmt die Bundesregierung in Kauf, dass rechtsstaatliche Prinzipien aufgeweicht werden und Standards bei der Prüfung von Schutzgesuchen in der EU so stark abgesenkt werden, dass weder faire Verfahren noch die Erfüllung menschenrechtlicher Standards zu erwarten sind. Weitere Länder, aus denen Schutzsuchende fliehen, als per se „sicher“ zu deklarieren, trägt zur gesellschaftlichen Spaltung bei und bestärkt antidemokratische und menschenfeindliche Positionen gegenüber Asylsuchenden.

Juristische Einordnung

Das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ wurde im Zuge des so genannten „Asylkompromisses“ 1993 eingeführt. Nach § 29a des Asylgesetzes wird die gesetzliche Vermutung festgelegt, dass eine politische Verfolgung in diesen Staaten per se ausschließt. Dieser kategorische Ausschluss ist im Kern unvereinbar mit dem individuellen Recht auf Asyl. Schutzsuchende müssen die eigene individuelle politische Verfolgung darlegen können. Eine gesetzlich festgeschriebene Vermutung über den Herkunftsstaat schließt die individuellen Erfahrungen von Verfolgung und Diskriminierung aus.

Im Ergebnis haben Schutzsuchende aus als „sicher“ deklarierten Herkunftsländern de facto keine Möglichkeit der individuellen Prüfung ihres Asylgesuchs, da die Klage- und Ausreisefrist bei einem „offensichtlich unbegründeten“ Antrag nur eine Woche beträgt. Weitere Gesetzesverschärfungen in den Jahren 2015 und 2016 haben dazu geführt, dass Schutzsuchende aus „sicheren Herkunftsstaaten“ zusätzlich diskriminiert werden, in dem sie das gängige Asylverfahren gar nicht mehr durchlaufen. Ihre Anträge werden im Rahmen von beschleunigten Asylverfahren nach § 30a Asylgesetz durchgeführt.

Inwieweit das Ziel des Gesetzesentwurfs, nämlich die Verkürzung der Verfahrensdauer, erreicht werden kann, ist bereits fraglich. Im Vergleich zu Asylverfahren von Menschen aus anderen Herkunftsländern ist die Dauer der Verfahren von Menschen aus Moldau und Georgien bereits weit unter dem Durchschnitt:

Dies kann jedoch dahinstehen. Denn eine Einordnung von Ländern als sog. „sichere Herkunftsländer“ hat im Hinblick auf das individuelle Recht auf Asyl für schutzsuchende Menschen nicht hinnehmbare Folgen.

Kommt eine Person aus einem sog. „sicheren Herkunftsland“, ist es nahezu unmöglich, im Rahmen des gerichtlichen Rechtsschutzes den Individualanspruch auf Asyl geltend zu machen. Die Voraussetzungen einer Einzelfallprüfung sind extrem eingeschränkt:

  • Grundsätzlich beträgt die Klagefrist im Verwaltungsrecht 4 Wochen. Diese Frist ist nötig, um sich ausreichend rechtlich beraten zu lassen und notwendige Beweismittel zusammenzustellen. Im Asylverfahren ist diese Frist bereits auf die Hälfte verkürzt. Im Hinblick auf Sprachbarrieren und räumliche Isolation in Lagern stellt diese Verkürzung bereits eine enorme Hürde für Schutzsuchende dar. Die Klage hat in einem solchen Fall jedoch zumindest aufschiebende Wirkung, was bedeutet, dass bis zu einer Entscheidung über die Klage nicht abgeschoben werden darf.
  • Wenn eine Person aus einem sog. „sicheren Herkunftsstaat“ kommt, beträgt die Frist im Fall einer Ablehnung als „offensichtlich unbegründet“ nur noch eine Woche, ohne dass die Klage aufschiebende Wirkung hat. Dies ist äußerst problematisch für die Betroffenen. Innerhalb einer Woche muss zusammen mit der Klage ein Eilantrag eingereicht werden, in welchem bereits inhaltliche Gründe glaubhaft zu machen sind.
  • Das bedeutet, dass schutzsuchende Menschen innerhalb einer Woche nicht nur rechtliche Beratung aufsuchen müssen, sondern im Fall von Krankheit zudem Atteste von Fachärzt*innen besorgen müssen. Denn nach dem Aufenthaltsgesetz kann eine Krankheit nur durch Vorlage einer sog. qualifizierten ärztlichen Stellungnahmen durch die betroffene Person selbst nachgewiesen werden.

Länderspezifische Einordnung

Bereits in der Vergangenheit haben sich die gesetzgebenden Organe bei der Bestimmung von sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“, etwa Albanien oder Bosnien und Herzegowina, nicht ausreichend mit den verfügbaren Quellen über mögliche Asylgründe auseinandergesetzt. Berichte von Menschenrechtsorganisationen wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder lediglich zitiert, ohne Konsequenzen zu ziehen, wie bereits die Nichtregierungsorganisation PRO ASYL feststellen musste.

So sind LSBTI* Personen in Georgien und der Republik Moldau regelmäßig massiven öffentlichen Anfeindungen und physischer Gewalt in Form von Angriffen ausgesetzt. Rom*nja werden insbesondere in der Republik Moldau seit Jahrhunderten massiv rassistisch diskriminiert, was nicht selten in Gewalt gegenüber diesen Personen resultiert. In keinem Fall kann trotz entsprechender gesetzlicher Rahmen in den Herkunftsstaaten davon ausgegangen werden, dass die Staaten ihrer Schutzverantwortung für diese Personengruppen gerecht werden und sie vor massiven Diskriminierungen und Gewalterfahrungen auch tatsächlich wirksam schützen.

Klinisch-psychologische Einordnung

Besondere Verfahrensgarantien können in einem beschleunigten Verfahren nicht gewährt werden 

  • Personen, die körperlich oder psychisch erkrankt sind, Personen, die Folter oder Gewalt erlebt haben und Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität verfolgt wurden, brauchen Zeit und Vertrauen, um traumabedingten Einschränkungen der Darlegung der Verfolgungsgeschichte gerecht zu werden.
  • Ihnen müssen besondere Verfahrensgarantien gewährt werden, weil sie die Anforderungen des Asylverfahrens andernfalls nicht ohne Benachteiligung bewältigen können.
  • Dies ist in dem für Schutzsuchende aus „sicheren Herkunftsländern“ vorgesehenen beschleunigten Verfahren nicht realisierbar. Die Versorgungspraxis zeigt, dass insbesondere die Belange von Asylsuchenden, die aufgrund von Gewalterlebnissen in ihrem Herkunftsland psychisch schwer belastet sind, in Form der beschleunigten Verfahren nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. 
  • Von besonderer Bedeutung ist hier, dass traumatische Erfahrungen bei Betroffenen Informationsverarbeitungs- und Gedächtnisprozesse so beeinflussen können, dass eine Erinnerung an das Erlebte nur noch unvollständig oder auf widersprüchliche Weise möglich ist. Traumatische Erfahrungen werden häufig nicht ganzheitlich verarbeitet und abgespeichert, sondern fragmentiert, in getrennten Erinnerungsstücken, z.B. in der Körperwahrnehmung oder in Form von Sinneserfahrungen. Sprachlich und in ihrer zeitlichen Chronologie sind sie zunächst oft nicht oder nur schwer mitteilbar. Dies hat häufig zur Folge, dass Asylsuchende erlittene Menschenrechtsverletzungen nicht so zusammenhängend und chronologisch korrekt vorbringen können, wie das im Asylverfahren von ihnen erwartet wird.  
  • Darüber hinaus können Angst, Scham und Vermeidung als Hauptsymptome zum Beispiel der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) dazu führen, dass vermieden wird, über genau die Aspekte des eigenen Schicksals zu sprechen, die für das Asylverfahren relevant sind. Die Betroffenen können dann nur karge Aussagen machen, die möglicherweise das Wichtigste aussparen oder als verworren, unzusammenhängend, widersprüchlich oder zeitlich verzerrt erscheinen. 

Menschen, die schwere Gewalterfahrungen erlebt haben, brauchen Zeit und Schutz, um ihre Geschichte und die von ihnen erlittenen Menschenrechtsverletzungen als Asylgründe vorbringen zu können. Dafür reicht die Zeit in einem beschleunigten Verfahren nicht aus. 

Bei Abschiebung in den so genannten „sicheren Herkunftsstaat“ werden Gewalterfahrungen durch Diskriminierung oder die Fortsetzung der Verfolgungserfahrung fortgeschrieben und es droht eine Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung. Psychisch reaktive Traumafolgen können sich – gerade im Kontext einer erneuten Konfrontation mit Örtlichkeiten oder Personen, die mit früheren traumatischen Ereignissen in Zusammenhang stehen – durchaus schwerwiegend und lebensbedrohlich verschlechtern. Diese „Vulnerabilität“ besteht bei Menschen, die unter Traumafolgestörungen leiden, lebenslang.

Die langanhaltenden Erfahrungen von Gewalt in den Herkunftskontexten, die diskriminierende Praxis in Deutschland und die durch die Asylgesetzgebung verschärften psychosozialen Belastungen führen im Sinne des Ansatzes sequenzieller Traumatisierung häufig zu komplexen Traumatisierungen, wie sie die Klient*innen der Psychosozialen Zentren erfahren.

Fazit 

Aus unserer Sicht erschwert das Gesetz strukturell, dass Geflüchtete – auch wenn sie schwer erkrankt oder traumatisiert sind – ihr Recht auf ein faires Asylverfahren in Anspruch nehmen können. Besonders vulnerable Gruppen werden zusätzlich systematisch benachteiligt. Für zahlreiche Betroffene kann dies im Falle einer Abschiebung trotz Schutzbedarf einer Gefährdung von Leib und Leben gleichkommen. 

Asylsuchende haben das Recht, als besonders vulnerabel identifiziert zu werden und müssen die daraus folgenden besonderen Verfahrensgarantien wie ausreichend Zeit und psychosoziale Unterstützung wahrnehmen können. Aus fachlicher Sicht kann dies weder im Zeitraum von nur einer Woche noch von psychologisch und medizinisch nicht umfassend qualifiziertem Personal geschehen. Die individuellen Gründe für Asyl und Schutzgesuch können mit dem Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ nicht mehr geltend gemacht werden. Deutschland verstößt mit diesem Gesetz gegen völkerrechtliche Verpflichtungen, wie sie sich aus der UN-Antifolterkonvention oder der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben.