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BeSAFE – Interview zu den Highlights und Lernerfahrungen aus der Pilotierung

Nach zwei lehrreichen Jahren schließen wir zum Jahresende unser vom BMFSFJ gefördertes Projekt „BeSAFE“ ab. Gemeinsam mit der Rosa Strippe e.V. haben wir erstmals ein zielgruppenübergreifendes Konzept entwickelt, mit dem besonders schutzbedürftige Geflüchtete in Erstaufnahmeeinrichtungen möglichst früh identifiziert und bedarfsgerecht unterstützt werden können. Wir haben das Konzept in zwei Aufnahmeeinrichtungen und zwei Psychosozialen Zentren in Nordrhein-Westfalen und in Bremen pilotiert, es im Dialog mit den Landesbehörden weiterentwickelt und unsere Erfahrungen wissenschaftlich evaluieren lassen. Die Veröffentlichung des Konzepts und unserer Praxistools planen wir für den März 2023.

Schon jetzt möchten wir an dieser Stelle teilen, wie wir das Projekt umgesetzt, was wir nach zwei Jahren erreicht haben und was es perspektivisch für eine möglichst frühzeitige Identifizierung besonderer Schutzbedürftigkeit braucht. Darüber haben unsere Projektleiter*innen Lisa vom Felde (BAfF e.V.) und Alva Träbert (Rosa Strippe e.V.) mit der Bundesinitiative „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ gesprochen.

Liebe Lisa vom Felde, liebe Alva Träbert – zwei Jahre Projektlaufzeit sind um. Das zielgruppenübergreifende Konzept ist erstellt und in zwei Aufnahmeeinrichtungen pilotiert. Was sind aus Ihrer Sicht zentrale Elemente des Konzepts? Wie ist die Pilotierung des Konzepts in den Aufnahmeeinrichtungen sowie die Kooperation mit den jeweiligen Landesbehörden abgelaufen?

Mit Nordrhein-Westfalen und Bremen konnten wir einen Flächenstaat und einen Stadtstaat für die Pilotierung gewinnen und hatten damit die Chance, sehr unterschiedliche Aufnahme- und Versorgungsstrukturen miteinander zu vergleichen. Unser Dank gilt an der Stelle den zuständigen Ministerien und Behörden, die uns Zugang zu den jeweiligen Erstaufnahmeeinrichtungen gewährt und die Erprobung unseres Identifizierungskonzepts damit erst möglich gemacht haben. In NRW hat uns auch das BAMF von Anfang an unterstützt. In beiden Erstaufnahmeeinrichtungen wurden Sprechstunden für besondere Schutzbedarfe etabliert, in denen Bedarfe festgestellt, Verweise an Psychosoziale Zentren und andere Beratungsstellen stattgefunden und Personen bei der Umsetzung ihrer Rechte unterstützt wurden. Zentrale Elemente des Konzepts waren einerseits die konkreten Materialien, die wir erprobt haben, also Beratungsleitfäden und Dokumente wie verbandsübergreifende Schweigepflichtsentbindungen und Dokumentationsvorlagen für besondere Schutzbedarfe. Andererseits ging es aber auch viel um den Aufbau der nötigen Netzwerke zwischen Behörden, freien Trägern, Regelversorgung und NGOs. Erst dadurch wurde eine gute Verweisberatung und ein nachhaltiges gemeinsames Case Management möglich. In beiden Bundesländern gab es eine Vorstellung der vorläufigen Projektergebnisse – wir möchten im Austausch bleiben und wo möglich die langfristige Implementierung der Handlungsempfehlungen aus dem Projekt begleiten.

Welchen Herausforderungen standen Sie im Laufe der Projektumsetzung gegenüber? Was hat wiederum besonders gut geklappt? Was waren Ihre Highlights im Projekt?

Zwei zentrale Herausforderungen in der Projektlaufzeit betrafen nicht nur uns, sondern das gesamte Aufnahmesystem: Covid-19 und der Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Belegungszahlen waren hoch, große Teile von Aufnahmeeinrichtungen über längere Zeiträume unter Quarantäne. Dadurch war es einerseits schwieriger, Menschen systematisch mit Informationen und Beratung zu erreichen, andererseits gab es noch geringere Kapazitäten für gesonderte Unterbringung, z.B. in Einzelzimmern oder Gebäuden mit Spezialisierung auf Schutzbedarfe. Auch den Fachkräftemangel haben wir zu spüren bekommen. Grundsätzlich sind die Ressourcen innerhalb eines Modellprojekts natürlich begrenzt, die Bedarfe vor Ort waren erwartungsgemäß viel höher. Highlights waren vor allem die positiven Rückmeldungen der Klient:innen, die die Beratung aufgesucht haben. Auch die Kolleg:innen aus der Bezirksregierung, der unabhängigen Verfahrensberatung, PSZ, anderen Beratungsstellen oder beim BAMF haben uns gespiegelt, dass die spezialisierte Beratung zu Schutzbedarfen ein wichtiger Baustein in der Aufnahme und Versorgung Geflüchteter war und an vielen Stellen Abläufe erleichtert hat.

Die Projektpilotierung ist Ende dieses Jahres abgeschlossen. Was sind aus Ihrer Sicht wesentliche Ergebnisse und Erkenntnisse hieraus?

Um den komplexen Lebensrealitäten geflüchteter Menschen wirklich gerecht zu werden, müssen wir Schutzbedürftigkeit intersektional denken. In der Pilotierung haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, Schutzbedürftigkeit deshalb nicht anhand der unterschiedlichen Personengruppen aufzuschlüsseln, sondern entlang der verschiedenen Lebensbereiche, auf die sich Vulnerabilität und daraus abgeleitete Schutzrechte auswirken. Das sind im Kern die Unterbringung und der Gewaltschutz, die medizinische Versorgung und die Umsetzung von Verfahrensgarantien im Asylverfahren. All diese Bereiche greifen natürlich ineinander, deshalb sollten auch die jeweiligen Fachkräfte miteinander in Kontakt stehen. Eine weitere wesentliche Erkenntnis ist, dass es Ansprechpersonen innerhalb der (Erstaufnahme-)einrichtungen für besondere Schutzbedarfe braucht, die niedrigschwellig erreichbar sind und Menschen vor Ort unterstützen können. Gleichzeitig braucht es aber für die Umsetzung der Bedarfe, deren Dokumentation und weitergehende Beratung und Begleitung ein breites Netzwerk von Fachberatungsstellen, die die schutzbedürftigen Personen unterstützen. Insgesamt hat sich auch gezeigt, dass es noch immer einen Wissensmangel zu Schutzbedürftigkeit und Schutzrechten gibt. Wir hoffen, mit den Projektergebnissen und den im Projekt entwickelten Materialien einen Beitrag zu leisten, damit sich das ändert.

Gemäß Ihrer Expertise und den nunmehr zwei Jahren Projekterfahrung – was ist zwingend notwendig, damit eine Identifizierung besonderer Schutzbedarfe Geflüchteter zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im Aufnahmeprozess gelingen kann?

Der erste Schritt sind frühzeitige, niedrigschwellige Informationsangebote für die Geflüchteten selbst. Darauf können verschiedene Beratungsangebote und/oder Screeningverfahren folgen. Qualifizierte Beratung sollte innerhalb der Aufnahmeeinrichtung, aber auch bei externen Fachstellen zugänglich sein. In jedem Fall müssen Fachkräfte und Sprachmittlungen sensibilisiert sein für den Umgang mit stigmatisierten, angstbesetzten Themen und Klient:innen, die meist stark psychisch belastet sind. Der Fokus sollte dabei stets auf der geflüchteten Person liegen, und darauf, ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu stärken. Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass auf erkannte Schutzbedarfe auch die entsprechende Versorgung folgen muss. Ein noch so gutes Identifizierungssystem geht letztlich ins Leere, wenn wir die Unterbringungs- und Versorgungsstrukturen nicht ausbauen. Dazu gehört auch, dass auf Seiten der Behörden, die für die Umsetzung von Schutzbedarfen zuständig sind, die nötigen personellen Kapazitäten, Strukturen und Verfahrensabläufe geschaffen werden.

Was braucht es aus Ihrer Sicht perspektivisch, um das zentrale Projektziel – Erkennen der besonderen Schutzbedürftigkeit(en) geflüchteter Personen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im Aufnahmeprozess – nachhaltig und flächendeckend umzusetzen?

Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung erwähnt ausdrücklich die Identifizierung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter – damit ist eine zentrale Weichenstellung für das Projektziel erfolgt, nämlich der erklärte politische Wille. Darauf müssen nun bei Bund und Ländern konkrete Maßnahmen folgen. Wie benötigen flächendeckende, zielgruppenübergreifende und systematische Verfahren, verbindliche Absprachen und Zuständigkeiten an allen Schlüsselpositionen im Aufnahmesystem. Die Identifizierung und Versorgung vulnerable Gruppen ist arbeitsintensiv – sie erfordert ausreichende Qualifizierung und Finanzierung von Fachkräften.  Und dann müssen alle zuständigen Ministerien und Behörden, Versorgungsstrukturen und wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteure an einen Tisch, um die Qualität dieser Arbeit zu sichern.

Liebe Lisa vom Felde, liebe Alva Träbert, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde erstveröffentlicht im Newsletter #9 (12/2022) der Bundesinitiative „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“.