…und Reaktivierungen von traumatischen Situationen vermeiden?
„Trauma bedeutet immer Verlust, Konfrontation mit Extremen, die unsere Weltsicht nachhaltig verändern, die unser Gefühl von Sicherheit oder die Möglichkeit, Situationen zu kontrollieren, in Frage stellen.“
Elise Bittenbinder, Vorstandsvorsitzende BAfF e.V.
Traumatisierungen durch Menschenhand sind immer ein Angriff auf die menschliche Würde. Die eigenen Grenzen des Traumaopfers wurden massiv missachtet, das Selbstbild ist nachhaltig erschüttert. Traumasymptome sind individuell sehr unterschiedlich und dienen meist dazu, sich vor weiteren Gefahren zu schützen, bestimmte Situationen zu vermeiden und somit Kontrolle und Handlungssicherheit wiederzuerlangen.
Um traumatisierte Geflüchtete zu stabilisieren und Hintergründe von „problematischem Verhalten“ zu verstehen, ist neben einer traumasensiblen Haltung und Vermittlung von Sicherheit eine Ressourcenorientierung besonders wertvoll.
Sicherheit und Orientierung
Der Vertrauensverlust in andere Personen und die Gesellschaft durch die traumatischen Erfahrungen führt bei den betroffenen Personen zu anhaltenden Anspannungen. Das Ziel (trauma)sensibler Begleitung und Beratung von Geflüchteten im Hinblick auf lebenspraktische Fragen sollte daher das Schaffen sicherer Orte sein. Durch diese können Personen erlernen, langsam wieder Vertrauen in andere zu gewinnen. Im Kontakt mit traumatisierten Geflüchteten sollte stets ein Gefühl der Sicherheit, Orientierung und Kontrolle vermittelt werden, sodass Betroffene die Situationen gut einschätzen können und selbst handlungsfähig werden bzw. bleiben. Dies kann dadurch gelingen, dass strukturelle Transparenz in der Einrichtung bzw. Beratung besteht. Für die Betroffenen ist es meist hilfreich, wenn sie wissen, wer wofür zuständig ist und wann welche Angebote erreichbar sind. Darüberhinaus sollte ein Wechsel von Zuständigkeiten zwischen den Beratenden nach Möglichkeit vermieden werden. Im Kontakt mit den Betroffenen sollte über die Rolle und Handlungsmöglichkeiten der Berater*in gesprochen werden. Betroffene sollten in alle Überlegungen miteinbezogen werden, es soll für sie ein Gefühl von Kontrolle, Handlungsmacht und Wahlmöglichkeiten entstehen. Hierfür muss das Vorgehen in der Beratung transparent gemacht werden und die Einwilligung der betroffenen Person für jeden Schritt eingeholt werden. Die Kommunikation sollte auf Augenhöhe erfolgen und das Angebot zuverlässige Unterstützung beinhalten. Gemeinsame Absprachen, die eingehalten werden, schaffen Vertrauen und Sicherheit.
- Transparenz bei Zuständigkeiten, Ansprechpartner*innen, Angeboten und Rolle der Beratenden
- Kontinuität der Bezugspersonen
- Einbeziehen der Betroffenen in Entscheidungen
- Kommunikation auf Augenhöhe
- Verbindlichkeit von Absprachen
Zur Herstellung von Sicherheit gehört auch die Vermittlung von unbedingter Gewaltfreiheit. Es gibt unterschiedlichste Formen der Gewalt, darunter physische und sexualisierte Gewalt, aber auch psychische Gewalt in Form von Demütigungen, Vermitteln des Gefühls von Wertlosigkeit, Drohungen und Diskriminierung. Verinnerlichte Rassismen können sich z. B. durch eine abwertende Sprache oder Aberkennung der Mündigkeit des Gegenübers und paternalistischer Bevormundung äußern. Daher ist es wichtig, die eigene Machtposition (z. B. als weiße und helfende Person) zu überdenken. Muster der Gewalt und Machtasymmetrien bei Fachkräften und geflüchteten Personen lassen sich nur durch kontinuierliche reflektierte Arbeit überwinden.
Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen z. B. in Gemeinschaftsunterkünften machen deutlich, dass sichere Orte vom Engagement der Bewohner*innen und Mitarbeitenden abhängen. Mithilfe von Methoden zur Förderung von Gewaltfreiheit (Gewaltfreie Kommunikation u. v. a.) können Strategien im Umgang mit Gewaltandrohungen oder -vorfällen erlernt werden.
- Unbedingte Gewaltfreiheit gewähren
- Eigene Machtposition überdenken
- Gewaltfreie Kommunikation
Die Vermittlung von Informationen schafft Orientierung. Hilfreiche Informationen über die eigenen Rechte und Ansprüche sind oftmals für die Betroffenen nicht einfach zu bekommen und kursierende Falschinformationen verunsichern. Daher ist es wichtig, durch eine gute Vernetzung stets auf dem neuesten Stand z. B. hinsichtlich rechtlicher Änderungen oder auch von Angeboten spezialisierter Einrichtungen zu bleiben. Wenn das Gegenüber hochgradig belastet scheint und Symptome einer Traumafolgestörung genannt werden, sollte sich mit der betroffenen Person über mögliche psychosoziale Versorgungsangebote ausgetauscht werden. Dabei kann der Besuch bei dem/der Hausärzt*in geraten werden, um eine Überweisung zu eine/r Fachärzt*in zu erhalten, oder zu psychosozialen Zentren, psychiatrischen Institutsambulanzen etc. verwiesen werden. Besteht die Aussicht auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch, können mit der belasteten Person bereits Ziele und Vorgehen in der Therapie (siehe Kapitel 2 auf Seite <ÜS>) vorbesprochen werden, sodass die Person eine realistische Vorstellung der Behandlung und eine Therapiemotivation entwickeln kann.
- Vermittlung von aktuellen Informationen zu Angeboten spezialisierter Anlaufstellen
- Weitervermittlung in spezialisierte Einrichtungen und Netzwerke
Haltung und „Kompetenzlosigkeitskompetenz“
Eine respektvolle und wertschätzende Haltung ist in jedem Beratungssetting von grundlegender Bedeutung. Von der beratenden Person sollten Ruhe und Sicherheit ausgehen, wie auch Offenheit und Akzeptanz. Die benannten Probleme der betroffenen Person sollten stets ernst genommen werden, auch wenn sie auf eine unübliche oder befremdliche Art und Weise beschrieben werden. Diese sollten auch nicht hinterfragt oder bewertet werden. Es sollte zunächst mit dem gearbeitet werden, was die betroffene Person mit in das Gespräch bringt.
Dem Gegenüber muss das Gefühl gegeben werden, gesehen, gehört und angenommen zu werden. Das Hinterfragen des eigenen kulturellen Bezugssystems und „Wissen“ über andere Bezugssysteme als gewachsene gesellschaftliche Konstrukte, unterstützt diese offene Haltung. Hierbei hilft vor allem die „Kompetenzlosigkeitskompetenz“.
Konzept der Kompetenzlosigkeitskompetenz
Der Pädagoge Paul Mecheril prägte mit seinem Konzept der „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ die pädagogische Arbeit u.a. mit geflüchteten Personen und die Ausrichtung interkultureller Arbeit. Er hinterfragt die Vorstellung von „Wissen und Nicht-Wissen“ im (vermeintlich) interkulturellen Kontakt. Die Verwendung des Begriffs „interkulturelle Kompetenz“ sieht er als eine fragwürdige Bestärkung der gerade im deutschsprachigen Raum dominanten Debatte über die Differenz zwischen der „eigenen“ und der „anderen“ Kultur und Religion. Dies führe zu Stereotypisierung und Kulturalisierung von Problemen und Personen, die stets als kategorisierbare „Andere“ wahrgenommen werden. Geflüchtete Personen würden so auf eine bestimmte Kultur reduziert werden, ohne kritisch zu hinterfragen, ob sie sich überhaupt dieser Kultur oder nicht (mittlerweile) einer oder mehreren anderen Kulturen zugehörig fühlen. Würde eine Person nur auf eine Kultur (meist orientiert an Nationalstaaten) angesprochen, würden zudem die vielen anderen kulturellen Zugehörigkeiten vernachlässigt, die jede Person aufweist. Der Blick auf bestehende Machtunterschiede und Rassismus würde so oftmals versperrt. Mecheril versteht daher unter professionellem (pädagogischen) Handeln ein grundlegendes reflexives Verhältnis zum eigenen Handeln, zu dessen Bedingungen und Paradoxien. Er fordert, Machtstrukturen und den Gebrauch kultureller Kategorien zu reflektieren, jedoch nicht, völlig auf solche Kategorien zu verzichten. Stattdessen müsse ein Konsens zwischen „Wissen und Nicht-Wissen“, der eigenen „Kultur“ und der des „Anderen“ gefunden werden (vgl. Lutz & Wenning, 2001).
Das bedeutet für die Praxis mit geflüchteten Klient*innen:
- Neugier und Experimentierfreude statt „Wissen“Offenheit und „Unwissenheit“ als Mittel zur Entlastung
- Haltung des Wissens vom eigenen Nicht-Wissen einnehmen
- Informationen erfragen müssen und dürfen
Beispiel Ramadan: Es ist sicher hilfreich zu wissen, was der Ramadan ist und wann er stattfindet. Sie können davon aber nicht ableiten, ob ihre muslimischen Klient*innen tatsächlich (immer) fasten, ob sie trotzdem Wasser trinken etc. - Informieren über die Kultur des Gegenübers, jedoch nicht darauf fixieren
- Wissen nicht generalisieren
Umgang mit und (Aus)Halten von traumatischen Inhalten
Für traumatisierte Personen kann es extrem belastend sein, über ihre Erlebnisse zu sprechen, da sie dadurch oftmals von der erlebten Gewalt, damit verbundenen Gefühlen und Schmerzen eingeholt werden. Betroffene haben nicht nur das Recht zu schweigen, es kann auch überlebensnotwendig oder sinnvoll für sie in diesem Lebensabschnitt sein. Das Erinnern und Sprechen über Trauma muss daher die freie Entscheidung der betroffenen Person sein, um ihre Grenzen und Selbstbestimmung zu wahren und nicht die Ohnmacht und das Ausgeliefertsein der traumatischen Situation wiederzuerleben.
Dies ist in retraumatisierenden Situationen nicht der Fall. Bei Retraumatisierungen befinden sich Menschen in einer ausweglosen Situation, in der sie entweder eine Realität und damit verbundene traumatische Inhalte verleugnen oder sich zu Erinnerungen gezwungen sehen, die sie überfluten könnten. Dies kann z. B. in Anhörungssituationen der Fall sein.
Daher gilt in der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten, die Menschen nicht unter Druck zu setzen, über die traumatischen Erlebnisse im Herkunftsland, auf der Flucht oder auch im Exil zu sprechen.
- Nicht nachbohren!
- Retraumatisierungen vermeiden!
In der psychosozialen Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten gilt in der Regel, sich auf das Hier und Jetzt und zukünftige Perspektiven zu konzentrieren und sich nicht zu sehr auf das Vergangene und das Trauma zu beziehen. Das Gegenüber sollte außerdem nicht auf traumatische Inhalte reduziert werden, sondern mit all seinen Fähigkeiten und Ressourcen wahrgenommen werden, die für das Gegenwärtige und Zukünftige hilfreich sind.
- Fokus auf Gegenwart und Zukunft
- Den Menschen mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen sehen
Allerdings kann es sein, dass mit zunehmendem Vertrauen und dem Gefühl einer sicheren Umgebung, Geflüchtete im Beratungskontext von ihren Erfahrungen berichten wollen.
In diesem Moment ist wichtig, auf die eigenen Grenzen und Möglichkeiten zu achten und abzuschätzen, ob es okay ist, die Erzählungen und Gefühle des traumatischen Geschehens zu halten und ihnen Raum zu geben: Habe ich gerade Zeit und Raum dafür? Habe ich gerade selbst ausreichend innere Stabilität?
Falls das Berichten der traumatischen Situation eigene Grenzen überschreiten sollte, muss dies der betroffenen Person einfühlsam transparent gemacht werden. In diesem Fall sollte das Angebot gemacht werden, passende Unterstützung (Psychotherapie, spezialisierte Beratungsstellen) gemeinsam zu suchen.
Im Anhang sind bundesweite Arbeitsgemeinschaften verzeichnet, die lokale Beratungs- und Behandlungsstellen bündeln.
- Auf eigene Grenzen achten!
- Weitervermittlung in spezialisierte Einrichtungen und Netzwerke
Wenn hingegen ausreichend Ressourcen und Stabilität bestehen, sollte der geflüchteten Person Offenheit und Empathie signalisiert werden und die Person und ihr Bericht ernst genommen werden.
Häufig kann es eine enorm entlastende Wirkung haben, wenn man als Gegenüber einfach da ist, einen Ort schafft, an dem sich die Betroffenen sicher fühlen und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden. Oftmals gab es einfach niemanden zuvor, mit dem die betroffene Person das traumatische Erleben hätte besprechen können oder sich traute dies zu tun – häufig aus Vorsicht, die andere Person nicht zu belasten. Beim sogenannten „Containing“ dient die beratende Person als „Behältnis“ und hält in der Gesprächssituation all das, was die betroffene Person häufig seit Monaten und Jahren mit sich herumgetragen hat.
Nicht nur das Sprechen über die traumatischen Inhalte und Folgen daraus können Entlastung bringen, sondern auch das Einordnen des eigenen Verhaltens als mögliche Symptome einer Traumafolgestörung. Für Betroffene ist es hilfreich zu verstehen, dass sie „ganz normal“ auf das Erfahrene reagieren und den Fehler oder die Schuld nicht mehr bei sich, sondern in politischen und gesellschaftlich-sozialen Kontexten sehen. Manchmal ist es den Betroffenen gar nicht bewusst, dass sie unter einer Traumafolgestörung leiden und bemerken nur, dass sie in bestimmten Situationen anders reagieren und sich manchmal vor ihrer eigenen Reaktion erschrecken. Daher kann es helfen, je nach eigener Fachkenntnis den Betroffenen Anzeichen von Traumafolgestörungen zu erklären und vielleicht gemeinsam herauszufinden, was bestimmte Schlüsselreize (Trigger) für diese heftigen Reaktionen sind. Man kann auch erklären, dass viele andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben und unter den gleichen Belastungen leiden. Dies führt bei den Betroffenen zu einer deutlichen Entlastung und reduziert das Schamgefühl, über die eigenen Gefühle und Handlungen zu sprechen. So können die Betroffenen Kontrolle zurückerlangen, sowie Situationen und ihre Reaktionen darauf besser einschätzen und willentlich damit umgehen.
Zur Information über weiterführende Angebote gibt es Broschüren und Selbsthilferatgeber, die speziell für Geflüchtete entwickelt und teilweise in verschiedenen Sprachen übersetzt wurden. Eine Übersicht ist im Anhang zu finden.
Aber auch hier gilt es, auf eigene Grenzen zu achten, nicht „heilen“ zu wollen, sondern zu stabilisieren. Bei fachlichen Fragen zu Traumafolgestörungen sollte gemeinsam nach weiteren Ansprechpartner*innen gesucht und nicht in die therapeutische Rolle geschlüpft werden, da Erzählungen und Problemsituationen zu belastend und überfordernd werden könnte.
- Offenheit zum Gespräch signalisieren
- Zeit einplanen und einen sicheren Raum geben
- Zuhören, wertschätzen, ernst nehmen und erklären
- Weitervermittlung in spezialisierte Einrichtungen und Netzwerke
Stabilisieren und Ressourcenorientierung
Der Zustand des Wartens während des Asylverfahrens und das Gefühl von Passivität und geringer Selbstwirksamkeit sind alltägliche Erfahrungen vieler Geflüchteter. Dies hat einen destabilisierenden Einfluss auf ihre Psyche. Hinzu kommt, dass durch Traumafolgesymptome die Menschen oftmals unter dauerhaft erhöhtem Stress stehen.
Das Ziel des Stabilisierens ist es daher, zunächst das Stresslevel der Betroffenen zu senken, aber langfristig durch Ressourcenaufbau Ängste und Unsicherheiten abzubauen und Potentiale zu erkennen, zu mobilisieren und zu erweitern. So kann ein würdevolles Leben nach der Flucht ermöglicht werden. Nach Menschenrechtsverletzungen, die eine Erfahrung von Kontrollverlust und extremer Ohnmacht darstellen, ist die Erfahrung, das eigene Leben gestalten und planen zu können, eine bedeutsame „Ermächtigung“ (Empowerment). Beim Reduzieren von Anspannung und Stress helfen sportliche Aktivitäten wie Joggen oder Übungen zur Beruhigung und Selbstregulation. Je nach Möglichkeit und Kenntnis können den belasteten Personen einzelne Konzentrations-, Entspannungs-, Achtsamkeits- und Bewegungsübungen gezeigt werden, sodass die Personen hilfreiche Strategien zur Bewältigung und Vorbeugung von Anspannung annehmen und damit Kontrolle über das eigene Handeln zurückgewinnen können. Herauszufinden, ob und welche der Übungen als hilfreich empfunden werden, braucht meist etwas Zeit und ist individuell sehr unterschiedlich. So kann es z. B. sein, dass durch Übungen, die die Achtsamkeit auf den Körper richten, die Menschen sich noch stärker auf ihre Schmerzen und Anspannung konzentrieren oder bei Übungen, bei denen die Augen geschlossen werden, Flashbacks erleben und dissoziieren. Daher sollten vor allem Übungen angeboten werden, bei der die Person im Hier und Jetzt bleibt und die eigene Kontrolle nicht verliert.
Dieser Text ist zuerst erschienen im Praxisleitfaden „Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten“