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Diskriminierung macht krank – Sondergesetz abschaffen!

1993 beschloss der Bundestag die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes – um Menschen auf der Flucht abzuschrecken und zu verhindern, dass sie in Deutschland Schutz suchen. Seitdem leben Geflüchtete in Deutschland unter menschenunwürdigen Bedingungen. Diese gefährden die Gesundheit und das Kindeswohl einer ohnehin besonders vulnerablen Personengruppe und verursachen langfristig höhere Gesundheits-, Verwaltungs- und Integrationskosten. Gemeinsam mit 200 weiteren Organisationen fordern wir deshalb anlässlich des 30. Jahrestages der Beschlussfassung am 26. Mai: „Es gibt nur eine Menschenwürde – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!“

Entstehungskontext: Ein Gesetz gegen die Menschenwürde

Am 26.5.1993 beschloss der Bundestag im sogenannten „Asylkompromiss“, das in der Verfassung garantierte Grundrecht auf Asyl zu beschneiden. Damit kam man den aggressiven und menschenfeindlichen Stimmen gegenüber Schutzsuchenden in Politik und Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre entgegen. Gleichzeitig entstand mit dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ein neues Gesetz, das die Lebensbedingungen von Schutzsuchenden auf ein Niveau deutlich unterhalb der regulären Sozialleistungen absenken sollte: durch die Unterbringung in Sammelunterkünften, Sachleistungen statt Geld und einen stark eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem.

Status Quo: Gesundheitsrisiken und ihre Folgen

Geflüchtete werden dadurch massiv in ihrer Autonomie, ihren Handlungs- und ihren Integrationsperspektiven beschränkt – und das, obwohl die daraus resultierenden Gesundheitsrisiken aus Wissenschaft und Versorgungspraxis bekannt sind. Lea Flory, Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Weiterbildung, beobachtet die besorgniserregenden Konsequenzen als Referentin der BAfF seit vielen Jahren:

„Menschen, die Gewalt erfahren haben, brauchen Sicherheit, verlässliche Beziehungen und Kontrolle über die Gestaltung ihres Lebens – andernfalls erleben sie immer wieder aufs Neue das Gefühl, einer bedrohlichen Situation ausgeliefert zu sein. Genau das wird durch das AsylbLG seit drei Jahrzehnten systematisch reproduziert: Die Isolation, das erzwungene Nichtstun und die Fremdbestimmung in Massenunterkünften verstärken selbst bei bislang gesunden Personen Stress- und Belastungssymptome. Medizinische und psychiatrische Notfälle bleiben oft unversorgt, weil die Kostenübernahme im AsylbLG für Behandelnde zu unsicher ist oder von den zuständigen Behörden rechtswidrig abgelehnt wird.“

Lea Flory, Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Weiterbildung, zu den Konsequenzen für die Betroffenen

Erhöhte Gesundheits- und Integrationskosten durch Ausschlüsse

Diese Ausschlüsse haben gravierende Folgen nicht nur für den Gesundheitszustand der Geflüchteten.  Aus der Versorgungsforschung ist bekannt, dass Geflüchtete das ambulante fachärztliche, psychiatrische und psychotherapeutische Versorgungssystem aufgrund der Leistungseinschränkungen in geringerem Ausmaß nutzen (können), die Hospitalisierungsrate hingegen doppelt so hoch ist[1].

„Einen Teil der psychosozialen Versorgung fangen die Psychosozialen Zentren für Geflüchtete auf. Doch auch wir müssen jedes Jahr Tausende Anfragen ablehnen und können unsere Angebote nur zu 3,7% über die gesetzlich verantwortlichen Leistungsträger abrechnen. Es ist hinreichend bekannt, dass die Symptombelastung steigt, wenn auf Unterstützungsbedarfe langfristig nicht reagiert werden kann. Dadurch chronifizieren Erkrankungen oder es werden Notfall- und Krankenhausbehandlungen notwendig, die durch eine rechtzeitige und angemessene ambulante Behandlung hätten verhindert werden können.“

Jenny Baron, Diplom-Psychologin, zur aktuellen Versorgungssituation

Die Leistungseinschränkungen im AsylbLG tragen nachweislich dazu bei, dass geflüchtete Menschen weniger bedarfsgerecht durch Angebote der medizinischen Versorgung erreicht werden, was höhere Versorgungskosten nach sich zieht[2]. Die Aufhebung der Leistungseinschränkungen für Geflüchtete aus der Ukraine zeigt, dass eine andere Richtung möglich ist: Sie muss für alle Schutzsuchenden gelten – dafür spricht auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativierbar

Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits 2012 fest, dass die Absenkung von Sozialleistungen nicht zur Abschreckung Asylsuchender eingesetzt werden darf[3]. Zuletzt verwarf das höchste deutsche Gericht im Oktober 2022 gekürzte Leistungssätze für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften als verfassungswidrig[4].

Die aktuelle Bundesregierung will das AsylbLG laut Koalitionsvertrag „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterentwickeln“. Bis heute ist aber nicht einmal das Urteil des Verfassungsgerichts vom Oktober 2022 im AsylbLG umgesetzt. Ein Blick in die Geschichte des AsylbLG zeigt, dass ein von vornherein auf Diskriminierung angelegtes Sondergesetz sich auch nicht wirksam verfassungskonform ändern lässt.

Eine andere Flüchtlingspolitik ist möglich

Die 90er Jahre sind lange vorbei, die Politik der Ausschlüsse von Geflüchteten sollte ebenso der Vergangenheit angehören. Die Aufnahme von Geflüchteten 2015/2016 und die Aufnahme von über einer Million ukrainischer Geflüchteten 2022 haben eine offene und hilfsbereite Gesellschaft sichtbar gemacht.  Die Integrationsminister*innen der Länder verweisen inzwischen auf die positiven Erfahrungen mit der Gleichstellung ukrainischer Geflüchteter und dringen auf einen zügigen, diskriminierungsfreien Zugang zu Integrationsleistungen „für alle vor Krieg, Gewalt und Verfolgung geflüchteten Menschen“. Für Kommunen und Länder hätte die Gleichstellung von Geflüchteten wegen der stärkeren Bundesbeteiligung und wegfallender Sondergesetz-Bürokratie auch erhebliche finanzielle Vorteile.

Geflüchtete müssen endlich in das reguläre Sozialleistungssystem einbezogen werden. Dies erfordert insbesondere folgende Änderungen:

  1. Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und Einbeziehung Geflüchteter ins Bürgergeld bzw. die Sozialhilfe (SGB II/XII).
  2. Einbeziehung aller Geflüchteten in die Sprach‑, Qualifizierungs- und Arbeitsförderungsinstrumente des SGB II.
  3. Einbeziehung geflüchteter Menschen in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung (SGB V/XI).
  4. Von Krankheit, Traumatisierung, Behinderung, Pflegebedürftigkeit Betroffene sowie schwangere, alleinerziehende und ältere Menschen und geflüchtete Kinder müssen – entsprechend ihrem Recht aus der EU-Aufnahmerichtlinie – einen Anspruch auf alle aufgrund ihrer besonderen Situation erforderlichen zusätzlichen Leistungen erhalten.
  5. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sind als Geldleistungen
    auszugestalten.

Der vollständige Text des Appells und die aktuelle Unterzeichnerliste finden Sie hier.

Pressekontakt: Jenny Baron, Referentin für Grundsatzfragen (+49 151 610 140 94 | jenny.baron@baff-zentren.org )

Fachinformationen:

Über die BAfF: Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF) ist der Dachverband der Psychosozialen Zentren, Einrichtungen und Initiativen, die sich die psychosoziale und therapeutische Versorgung von Geflüchteten in Deutschland zur Aufgabe gemacht haben.

Web: www.baff-zentren.org
Newsletter: http://www.baff-zentren.org/newsletter/


[1] Bauhoff und Göpffarth 2018; Biddle et al. 2019; Gottlieb et al. 2020; Lichtl et al. 2017. Mehr Informationen in: Analyse „Gesundheitssystem zwischen Krise und Integration: Lehren aus 30 Jahren Fluchtmigration (Kayvan Bozorgmehr, Louise Biddle & Nora Gottlieb): https://www.wido.de/fileadmin/Dateien/Dokumente/Publikationen_Produkte/GGW/2022/wido_ggw_0322_bozorgmehr_et_al.pdf

[2] Bozorgmehr und Razum 2015; Hollederer 2020. Mehr Informationen Vgl. Fn .1

[3] Beschluss vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10

[4] Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21