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Psychosoziale Auswirkungen von Gewalt und Flucht

Weltweit leben Millionen Menschen in Regionen, die von Unsicherheit, Gewalt und Katastrophen geprägt sind. Viele erleben schwere Menschenrechtsverletzungen, Folter oder Kriege, erfahren sexualisierte Gewalt oder werden Zeug*in davon, werden verfolgt oder vertrieben. Diese Erlebnisse zwingen viele zur Veränderung ihrer Situation durch Flucht – im Jahr 2016 waren das mehr als 65 Millionen Menschen (UNHCR, 2017). Die meisten dieser Menschen suchen Schutz im eigenen Land oder in Nachbarländern, die oftmals politisch oder ökonomisch von großer Instabilität geprägt sind. Nur Wenige fliehen in Richtung Europa und noch weniger von ihnen schaffen den gefährlichen Weg.

Die Flucht ist stets verbunden mit dem Verlassen von Familien und sozialen Netzwerken sowie oftmals lebensgefährlichen Fluchtrouten. Viele Menschen bezahlen die Flucht mit ihrem Leben, verlieren Angehörige in der Wüste oder auf dem Mittelmeer. Politische Unterdrückung und kriegerische Handlungen haben häufig Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Überlebenden.

Diese Auswirkungen auf die Psyche werden Trauma genannt. Das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt „Wunde“. Dieser Begriff schließt also mit ein, dass Gewalterfahrungen für Menschen schwerwiegende psychische Folgen haben können, da diese seelische Wunden zurücklassen. Dabei werden traumatische Lebensereignisse nach Dauer, Häufigkeit und Auslöser unterschieden.

Arten von traumatischen Lebensereignissen

Das Leben vieler Geflüchteter ist geprägt von einer ganzen Reihe an lang andauernden Bedrohungssituationen: Verfolgung, Morde und sexualisierte Gewalt gehörten für viele Geflüchtete zum Alltag – und sie ereignen sich in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der nichts mehr sicher ist. Bei Menschen, die über einen längeren Zeitraum misshandelt wurden, Kriege miterlebten, mehrmals inhaftiert oder gar gefoltert wurden, umfasst das traumatische Erleben mehrere Ereignisse, die sich häufen, wiederholen, länger andauern und damit kumulativ wirksam werden. Zu diesen traumatischen Erfahrungen gehört auch Gewalt gegenüber anderen miterlebt oder Leichen gesehen zu haben.

Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen haben meist schon sehr früh Gewalterfahrungen gemacht, was Folgen für ihre psychische Gesundheit und Entwicklung haben kann. Das häufige Erleben von traumatisierenden Situationen wird durch eine Studie aus den Niederlanden deutlich. Diese zeigt, dass etwa 23  % der begleiteten Kinder körperlich misshandelt und etwa 8  % sexuell missbraucht wurden, wohingegen 63  % der unbegleiteten Minderjährigen körperlich und 20  % sexuell misshandelt wurden (bei Jungen: 12  %, bei Mädchen: 39  %) (Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert, & Spinhoven, 2007).

Bei diesen Ereignissen, die von Menschen gemachte Gewalt darstellen (man-made disasters), wird von traumatischen Lebensereignissen nach dem Typ-II gesprochen.

Typ-I-Traumata liegen vor, wenn eine Traumatisierung durch ein einzelnes, zeitlich begrenztes Ereignis ausgelöst wird. Kennzeichen dafür sind das einmalige, unerwartete, plötzliche, das „akzidentielle“ Auftreten, etwa wenn Menschen bei einem Verkehrsunfall nur knapp dem Tod entkommen sind, eine Naturkatastrophe oder auch eine einmalige Vergewaltigung überleben.

Menschengemachte und beabsichtigte Gewalt, die darauf ausgerichtet ist, das Gegenüber zu erniedrigen bzw. bei Folter, die Persönlichkeit des Gegenübers zu zerstören, sind deutlich schwieriger zu verarbeiten. Sie bedeuten eine grundlegende Erschütterung des Vertrauens in die Welt und in andere Menschen. Selbstzweifel, Gefühle der Unsicherheit, der permanenten Bedrohung, der Wertlosigkeit und der Schwäche können auftauchen. Die Sicht auf die Welt ändert sich, sie wird von nun an als feindselig, unberechenbar und chaotisch wahrgenommen. Die Überzeugung, dass die Welt verlässlich ist und das Leben einen Sinn hat, geht verloren und es überwiegen Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein traumatisches Ereignis nochmals eintritt, wird von den Betroffenen als hoch eingeschätzt.

All die unmenschlichen und grausamen Erlebnisse vor und während der Flucht verhindern im Ankunftsland den Aufbau eines „normalen“ Lebens. Denn auch wenn die Gefahr und die traumatisierenden Erfahrungen „objektiv“ gesehen weit weg zu sein scheinen, werden viele Personen von den Erinnerungen immer wieder eingeholt. Doch nicht nur das eigene traumatische Erleben, auch die Todesangst um Angehörige, die in den Herkunftsländern und Kriegs- bzw. Verfolgungsgeschehen zurückbleiben mussten, verhindert ein Ankommen. Hinzu kommen prekäre Lebensbedingungen, wie die Unsicherheit über den Ausgang des Asylverfahrens oder über den Nachzug der Angehörigen (siehe „Postmigrationsstressoren bei Geflüchteten in Deutschland“ auf Seite <ÜS>).

Traumatische Erfahrungen, wie sie ein großer Teil der Geflüchteten erlitten hat, sind starke Einflussfaktoren für die physische und psychische Gesundheit. Internationale Studien weisen darauf hin, dass die Rate der Erkrankung nach einem traumatischen Erlebnis (hier Diagnose PTSD) bei Geflüchteten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um etwa das Zehnfache erhöht sein kann (Fazel, Wheeler, & Danesh, 2005).

In Studien sind Zahlen zu Geflüchteten mit Traumafolgestörungen im Mittel zwischen 30 und 50  % zu finden (Bozorgmehr u. a., 2016). Das heißt aber auch: Nicht jede geflüchtete Person ist traumatisiert oder leidet unter einer Traumafolgestörung! Dies ist nicht nur von der Art, der Schwere und der Häufigkeit der traumatischen Erfahrung abhängig, sondern insbesondere von der Zeit danach, in der eigentlich die Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen beginnen könnte.

Traumafolgestörungen bei Geflüchteten

Menschen, die Traumatisches erlebt haben, können sehr unterschiedlich auf diese psychische Belastung reagieren. Eine häufige psychische Reaktion ist die Entwicklung einer von verschiedenen Traumafolgestörungen. Unter diesem Oberbegriff können mehrere klinische Diagnosen gefasst werden:

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS bzw. PTSD)

  • depressive Störungen
  • dissoziative Störungen
  • Angststörungen
  • emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline)
  • Suchterkrankungen
  • somatoforme Störungen
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen (darunter Herzinfarkt und Schlaganfall)
  • immunologische Erkrankungen (Asthma, Gelenkentzündungen, Ekzeme, …)

Häufig treten auch mehrere Traumafolgestörungen zeitgleich auf (Komorbidität) und überlagern sich. Eine Studie zeigte, dass bei etwa 88  % der Patient*innen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung mindestens eine weitere psychische Störung vorliegt, bei 76  % mindestens zwei weitere Störungen (Perkonigg, Kessler, Storz, & Wittchen, 2000).

Kritik an der Pathologisierung durch die Diagnose PTSD

Im Diskurs um Trauma bei Geflüchteten wird oftmals direkt von der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ gesprochen. Diese Diagnose birgt jedoch auch Einschränkungen und Missverständnisse, die an dieser Stelle erläutert werden sollen.

Trauma wird zunehmend in der klinisch-naturwissenschaftlichen Perspektive auf die Prozesse im Gehirn reduziert, d.h. innerpsychische, neurobiologische Prozesse. Die Ursachen des Traumas werden als starker Stressreiz bezeichnet, der eine Überflutung durch Stresshormone nach sich zieht, mit denen die betroffene Person in der Situation nicht fertig wird. Mit der psychiatrischen Diagnose PTSD wird der betroffenen Person dann eine „Krankheit“ bzw. „Störung“ bescheinigt.

Was kann diese Sicht für Folgen haben bezüglich unserer Wahrnehmung von traumatischen Situationen und der traumatisierten Person? Gesellschaftliche Umstände, politische Gewalt und auch aktuelle prekäre Lebensumstände werden unsichtbar gemacht, wenn wir sie lediglich als Stressreiz beschreiben. Die geflüchtete, traumatisierte Person wird formal nicht mehr als Überlebende*r von Menschenrechtsverletzungen gesehen, sondern als kranker Mensch, der eine Reihe von Symptomen aufzeigt. Diese Kritik an pathologisierenden Interpretationen lässt sich nicht nur auf die Diagnose PTSD beziehen, wird in diesem Kontext aber besonders dringlich.

Denn mit der Diagnose wird zwar anerkannt, dass die erlittene Gewalt grausame Folgen auf die Psyche der betroffenen Person hat. Die Bearbeitung dieser Folgen – und eben auch ihres Ursprungs – wird jedoch auf das Individuum abgeschoben und gesellschaftliche Missstände werden privatisiert. Eine weitgehend unbenannte „Störung“ liegt in diesem Sinne eher auf der Seite der Täter*innen oder Verhältnisse vor (Bittenbinder & Patel, 2017). „Die Reaktion auf traumatisierende Gewalt ist angemessen, die Verhältnisse, die solche Gewalt zulassen, sind es nicht.“ (Brenssell & Weber, 2016, S.126).

Gleichzeitig sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Benennung von Reaktionen auf traumatisierende Erlebnisse in klinischen Diagnosen dabei hilft, Ansprüche zur Behandlung oder auf Entschädigung geltend zu machen. Die Diagnose einer Traumafolgestörung kann also – neben der Stigmatisierung und Pathologisierung der Betroffenen – auch zu Entlastung führen, wenn sie dabei unterstützt, dass die betroffenen Personen selbst, aber auch ihre Mitmenschen, die ungewöhnlichen Reaktionen nach dem Trauma einordnen und benennen lernen.

Traumatisierte Personen sind also nicht „gestört“, denn unter Einbezug des traumatisierenden Kontexts wird deutlich, dass diese komplexen Reaktionen der Betroffenen angemessene Reaktionen auf massive Gewalt sind. Daher ist es für den traumasensiblen Umgang mit Geflüchteten unabdingbar, die sozialen und politischen Verhältnisse zu kennen und zu berücksichtigen, und sich nicht allein auf klinische Diagnosen zu beziehen.

Posttraumatische Belastungsstörung

Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung wird in Politik und Medien immer häufiger als die Diagnose benutzt, um das Leid von Geflüchteten zu beschreiben.

Um die Diagnose PTSD zu bekommen, muss die betroffene Person Ereignissen mit außergewöhnlichem oder katastrophenartigem Ausmaß ausgesetzt gewesen sein, die die Fähigkeit eines Menschen, diesen Stress zu bewältigen, übersteigen und bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden. Anzeichen dieser Traumafolgestörung sind, wenn Personen aufgrund von wiederkehrenden Erinnerungen an das Trauma nicht mehr oder nur noch schlecht schlafen können, schweißgebadet aus Albträumen aufwachen, sich aus Angst und Misstrauen vor ihren Mitmenschen zurückziehen und womöglich auch zeitweise die Kontrolle über sich und ihre Gefühle verlieren.

Für die Diagnose PTSD gibt es klar definierte Symptome, die sich in drei Bereiche zusammenfassen lassen:

Unerwartetes, intensives Wiedererleben in Form von Bildern, filmartigen Szenen oder Albträumen, aber auch Körperempfindungen und Gerüchen (Flashback). Während der traumatischen Situation konnte keine Verarbeitung des Erlebten stattfinden, was im Nachhinein vom Körper immer wieder versucht wird. Häufig finden diese Versuche der Verarbeitung in Situationen statt, in der der Körper zur Ruhe kommt (Einschlafen, Albtraum, Aufwachen), aber auch am Tag können Flashbacks stattfinden oder durch sogenannte „Trigger“ oder auch Schlüsselreize ausgelöst werden, etwa durch Gerüche, Farben, Geräusche oder andere Reize die an die traumatische Situation erinnern. Diese Reize sind oftmals auch nicht bewusst mit der traumatisierenden Situation verbunden. Diese Flashbacks lösen unerwartet extreme Angst oder Dissoziationen aus. Die Erinnerung an das Erlebnis lässt die Personen sich ohnmächtig fühlen, sie können den Eindruck erhalten, das traumatisierende Erlebnis erneut durchleben zu müssen.

Triggerfaktoren in Unterkünften. © BAfF e.V.

Dissoziationen

 „Manchmal da ist mein Kopf nicht da. Ich bin körperlich hier, aber mein Kopf geht irgendwo anders hin.“

“Es fühlt sich an wie im Nebel zu sein”

“Ich stehe neben mir und schaue mir selbst zu.”

“Mein Körper macht, was er will.”

Dissoziation bedeutet „Trennung“ oder „Auflösung“ der eigentlich zusammenhängenden Funktionen von u.a. Gedächtnis, Wahrnehmung und Motorik. Traumatisierte Menschen können während der belastenden Situation dissoziieren und treten somit aus der unausweichlichen Situation innerlich aus. Bei Dissoziationen als eine Art Schutzmechanismus kommt es u.a. zur Reduktion einströmender Reize, Empfindungslosigkeit sowie verzerrter Zeitwahrnehmung. Es kann zum Entfremdungserleben oder zur Empfindung des Abgetrenntseins von der Umgebung – „es ist alles so sonderbar, so komisch, so fremd um mich herum“ – (Derealisation) oder des Selbst/ des eigenen Körpers – „ich bin nicht mehr ich“ – (Depersonalisation) kommen. Betroffene Personen können sich im Nachhinein nur bruchstückhaft an das Erlebte erinnern, Erinnerungen vermischen sich und so kann es Betroffenen auch oft schwer fallen zu unterscheiden, ob Erinnerungen wahr sind oder nicht.

Auch nach der traumatischen Situation kommt es häufig dazu, dass Betroffene dissoziieren und plötzlich „wegtreten“, ins Leere blicken und nicht mehr auf andere Personen reagieren, wenn sie mit Schlüsselreizen konfrontiert werden.

Umgang mit Dissoziationen

Sie stellen fest, dass Ihr Gegenüber auf Ihre Ansprache nicht mehr reagiert, verstummt und ins Leere blickt, dann sollten Sie die Person unterstützen sich wieder in der Gegenwart zu orientieren und folgendes beachten:

Generell gilt:

  • laut und deutlich sprechen
  • zurückhaltend im Körperkontakt (ungewollte Berührung kann eine erneute Grenzverletzung sein)
  • nicht über die traumatische Situation/Sequenzen sprechen
  • Stimuli bereithalten (Igelball o.ä.)

Konkretes Vorgehen während Dissoziation:

  • klare, ruhige und mehrmalige Ansprache der Person mit Namen
  • Person nach Ort und Tag fragen (leichte Fragen helfen bei der Orientierung im Hier und Jetzt)
  • Blickkontakt suchen und Person auffordern, ihn herzustellen
  • Person auffordern sich hinzustellen und sich zu bewegen (stampfen, laufen, ausschütteln, gemeinsam den Raum verlassen)
  • Person auffordern, tief auszuatmen
  • etwas zu trinken anbieten
  • starke Reize anbieten: Hände unter kaltes Wasser halten, Igelball kneten, scharfes Kaugummi/ Lutschbonbon anbieten

 Nach der Dissoziation:

  • Kontakt zur Person halten
  • Orientierung geben
  • Ort bzw. Thema wechseln
  • Ruhe und Sicherheit ausstrahlen, „Hier und Jetzt ist alles in Ordnung“

Traumatisierte Personen zeigen oftmals ein dauerhaft erhöhtes Stress- und Anspannungslevel. Die Erwartung möglicher neuer Gefahren bringt den Körper in einen Modus der ständigen Wachsamkeit und damit verbunden auch sehr starken Schreckhaftigkeit. Dies äußert sich in einer körperlichen Unruhe und Nervosität. Durch die erhöhte Anspannung schlafen die Personen meist sehr schlecht. Schlafstörungen verstärken wiederum die erhöhte Reizbarkeit, die sich bei manchen Betroffenen auch in Wutausbrüchen und hoher Konfliktbereitschaft äußern kann. Auch die Konzentrationsfähigkeit ist bei diesen Personen oftmals sehr niedrig, was den Personen es erschwert, z. B. in Sprachkursen oder in der Schule den ganzen Tag dem Unterricht zu folgen.

Gedanken, Gefühle, Orte, Situationen und Gespräche, die die Betroffenen an das traumatische Erlebnis erinnern, werden vermieden. Die traumatisierten Personen gehen all diesen Reizen aus dem Weg, manche ziehen sich zurück und schotten sich ab. Andere wiederum vermeiden es, alleine zu sein oder zur Ruhe zu kommen und versuchen sich abzulenken, um so das Aufkommen der traumatischen Situation zu vermeiden. Häufiges Anzeichen ist auch die sogenannte Gefühlstaubheit, d.h. der Eindruck entsteht, dass die Betroffenen nichts fühlen oder die eigenen Gefühle als unwirklich wahrnehmen und emotionale Abschottung, Freudlosigkeit, Teilnahmslosigkeit bis hin zur Entfremdung gegenüber der eigenen Familie und Freund*innen zeigen. Für Außenstehende wirkt dies oftmals so, als würde die betroffene Person alles „kalt lassen“ und gleichgültig sein.

Diese Anzeichen haben massive Auswirkungen auf Beziehungen, Ausbildungschancen, aber auch enormen Einfluss auf die Anhörung im Asylverfahren. Trauma führt dazu, dass Erinnerungen nicht chronologisch, geordnet und detailliert im Gedächtnis gespeichert werden. Sie sind meist bruchstückhaft, fragmentiert und teilweise können wichtige Aspekte (Zeitpunkte, Namen oder genaue Daten) gar nicht erinnert werden, insbesondere unter Stresssituationen, wie sie die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für die meisten Geflüchteten darstellt. Dies führt dazu, dass Aussagen oftmals nicht vollständig, detailreich, chronologisch und widerspruchsfrei erzählt werden können, was jedoch Kriterien der Glaubwürdigkeit sind.

Somatoforme Störungen

Somatoforme Störungen sind physische Störungen, die verschiedene körperliche Beschwerden bei den betroffenen Personen auslösen, für die jedoch keine eindeutigen körperlichen Ursachen auszumachen sind. Symptome wie Schmerzen in verschiedenen Körperteilen (bspw. Kopf, Rücken, Schultern), Schwindel, Verdauungsbeschwerden, Herz- und Atemprobleme können ohne eine eindeutige (organ-)medizinische Erklärung bei den Betroffenen auftreten. Die Symptome können als Reaktion einer dauerhaften Anspannung der Muskeln und nicht genügend Blut-, Liquor- oder Plasmafluss im Körper auftreten. Des Weiteren können auch Körpererinnerungen, worunter die physische Verletzung von Schreckenssituationen und ein anhaltendes Schmerzsignal an der betroffenen Körperstelle verstanden wird, als Ursache für somatoforme Störungen dienen.

Suchterkrankungen

Eine der verschiedenen Folgeerkrankungen eines Traumas kann die Suchterkrankung sein. Der Versuch, sich selbst durch einen erhöhten Konsum von Alkohol und Substanzen zu betäuben, wird zunächst durch Verdrängung und Nicht-Verarbeitung der traumatischen Ursache als positiv von der betroffenen Person bewertet. Jedoch müssen der betroffenen Person bei einer Suchterkrankung dringend Alternativen zu selbstschädigenden Lösungsversuchen aufgezeigt werden und eine Behandlung wird notwendig, bevor weitere folgende Erkrankungen und Probleme entstehen.

Depressive Störungen

Weltweit leiden mindestens 20  % der geflüchteten Personen unter Depressionen (vgl. Lindert, Ehrenstein, Priebe, Mielck, & Brähler, 2009). Zu Ursachen der depressiven Symptome zählen potenziell traumatische Erfahrungen, Auswegs- und Perspektivlosigkeit, die Unlösbarkeit von Problemen und keine Möglichkeit Trauer und Schmerz angemessen zu verarbeiten. Diese Symptome können insbesondere bei Personen, die ihr Herkunftsland verlassen mussten, während der Flucht und/oder nach der Ankunft in einem neuen Land verstärkt auftreten. Zu den typischen Symptomen einer Depression zählen des Weiteren (vgl. DSM-V): gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebs- und Energielosigkeit, innere Unruhe, erhöhte Ermüdbarkeit, Erschöpfung, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, negative bzw. pessimistische Zukunftsperspektiven, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle, Wertlosigkeit, verminderter Appetit, und innerhalb einer stark ausgeprägten Depression auch Gedanken an den Tod und Suizidalität.

Suizidalität

Unter Suizidalität ist der Versuch, einen Suizid zu begehen, und der Gedanke an einen Suizid zu verstehen. In den meisten Fällen ist die Ursache für Suizidalität eine vorangegangene depressive – nicht behandelte – Erkrankung. Die betroffenen Personen können ihre traumatischen Erfahrungen und negativen Gedanken nicht verarbeiten und suchen den Suizid als Ausweg. Häufig fehlen den betroffenen Personen vertrauenswürdige Ansprechpartner*innen und somit soziale Bindungen. Für geflüchtete Personen sind die traumatischen und depressiven Erfahrungen oftmals nicht zu verarbeiten und Vertrauenspersonen in einem neuen Land fehlen, um sich Hilfe zu suchen.

Persönlichkeitsstörungen

Borderline als Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch ein „tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie […] deutliche[…] Impulsivität“ (DSM-V). Viele Persönlichkeitsstörungen entstehen im frühen Erwachsenenalter und beeinflussen die betroffenen Personen langfristig in der Steuerung ihrer Gefühle oder der inneren Anspannung. Zu den Symptomen einer Borderline Persönlichkeitsstörung zählen ausgeprägte Stimmungsausbrüche und ein chronisches Gefühl der Leere. Des Weiteren kann ein impulsives Verhalten, mit dem sich selbst Schaden zugefügt wird (Alkohol- oder Substanzmissbrauch), und suizidale oder selbstverletzende Verhaltensweisen bei der betroffenen Person auftreten. Persönlichkeitsstörungen lassen sich in manchen Fällen auf vorausgegangene traumatische Ereignisse wie schwere körperliche, sexualisierte oder emotionale Gewalt zurückführen.

Verlauf und Auftreten von Traumafolgestörungen

Im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Beschreibung von Traumafolgestörungen mit dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung entsteht häufig der Eindruck, bei Traumatisierungen handele es sich immer um Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, die bei der betroffenen Personen unter Umständen eine psychische Belastungsreaktion auslösen und im Anschluss verarbeitet werden. Nach dem gängigen Diagnosemanual (ICD-10) müssen die Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung in der Regel innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis oder nach dem Ende einer Belastungsperiode auftreten (ein späterer Beginn ist jedoch möglich) und mindestens vier Wochen anhalten.

Das Trauma wird in der Konzeption der PTSD als einzelnes, herausgelöstes Ereignis – als konkreter Stressor – betrachtet, der einen Anfang und ein Ende hat, auf dessen Ende wiederum eine Reaktion folgt. Für Menschen, die langandauernde Gewalt erfahren haben, die überdies unauflöslich mit komplexen politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen verwoben sind, erweist sich diese Traumakonzeption häufig als unzureichend (Becker, 2006; Brenssell & Weber, 2016).

In vielen Fällen brechen die Traumafolgestörungen bei Geflüchteten erst lange nach dem traumatischen Erlebnis auf, da andere Bedürfnisse, wie z. B. körperliche Erkrankung, Sicherheitsbedürfnis, sozioökonomische Bedürfnisse, Vorrang haben. Die Lebenssituation der Geflüchteten ist auch im Aufnahmeland noch von massivem akutem Stress gekennzeichnet. Viele wissen monate- bzw. jahrelang nicht, ob sie bleiben können oder wieder in eine Krisenregion zurück müssen, in der sie erneut der gleichen oder ähnlichen traumatisierenden Situationen ausgesetzt werden. Einige haben daher in dieser Situation nicht ausreichend Energie, um sich mit den traumatischen Erfahrungen, die zur Flucht geführt haben, auseinanderzusetzen und diese zu bearbeiten. Es kann daher durchaus sinnvoll sein, das Trauma für den Moment gut weggepackt zu haben und es auch erst mal nicht hervorzuholen. Denn das könnte es für die Betroffenen unmöglich machen, anzukommen, das Asylverfahren zu durchlaufen, die Kinder in der Schule unterzubringen, etc.

Ein wegweisendes Konzept für das Verständnis von Traumatisierungen bei Geflüchteten ist das der „Sequentiellen Traumatisierung“ von Hans Keilson. Darunter wird Trauma nicht als ein einmaliger Vorgang verstanden, sondern als ein langer Prozess mit verschiedenen Phasen oder verschiedenen traumabezogenen Sequenzen.

Dieser Text ist zuerst erschienen im Praxisleitfaden „Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten“