Am Mittwoch hat ein 28-jähriger Asylsuchender aus Afghanistan in Aschaffenburg zwei Personen erstochen. Bei den Todesopfern handelt es sich um einen zweijährigen Jungen marokkanischer Herkunft und einen 41 Jahre alten Passanten, der der Kita-Gruppe zur Hilfe eilte. Ein zweijähriges syrisches Mädchen wurde schwer verletzt. Der festgenommene Tatverdächtige ist ein Afghane, der zuvor in psychiatrischer Behandlung war und unter gesetzlicher Betreuung stand. Der Fall wirft viele Fragen auf und wird von einem menschenverachtenden politischen Echo begleitet, das geflüchtete Menschen und Personen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, massiv stigmatisiert und unter Generalverdacht stellt.
Auch wir als Bundesverband der Psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Überlebende von Folter wurden in den letzten Tagen mit Fragen konfrontiert: Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Geht von psychisch erkrankten Geflüchteten eine besondere Gefahr aus? Wie lassen sich solche Taten verhindern? War die psychiatrische Betreuung des Verdächtigen ausreichend? Gab es in der Unterkunft, in der er lebte, eine sozialarbeiterische Betreuung? Und welche strukturellen Mängel im Versorgungssystem könnten eine Rolle gespielt haben?
Die Versuchung, schreckliche Taten wie diese allein durch das Vorliegen einer psychischen Störung zu erklären, ist groß. Dabei ist bisher noch nicht geklärt, inwieweit die psychische Erkrankung ursächlich für die Tat war. Jeder Mensch hat ein 30-prozentiges Risiko, im Laufe seines Lebens psychisch zu erkranken. Menschen, die Gewalt erlebt haben und eine gute Versorgung bekommen, stellen kein besonderes Risiko dar. Dass dies gerade suggeriert wird, zusätzlich zu der Gewalt, der Menschen ausgesetzt sind, macht uns sprachlos.
Die Eltern der toten und verletzten Kinder von Aschaffenburg sind selbst zugewandert – doch dies findet in der öffentlichen Debatte kaum Beachtung. Die AfD fordert Remigration in großem Stil, Ministerpräsident Markus Söder forderte, Abschiebungen direkt aus der Psychiatrie, CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz kündigte an, am ersten Tag seiner möglichen Kanzlerschaft werde er die deutschen Grenzen für alle Geflüchteten schließen. Zurückweisungen solle es „ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch“ geben. Außerdem forderte Merz zeitlich unbegrenzte Abschiebehaft zu ermöglichen.
Die Forderung nach einer Registrierung von psychisch kranken Personen erinnert an die NS-Zeit und wird als rechte Stimmungsmache missbraucht, ohne die Kernprobleme in der Versorgung von psychisch kranken Geflüchteten ernst zu nehmen.
Die Ereignisse und ihre Rezeption werfen Fragen auf, die über den Einzelfall hinausgehen. Wir geben an dieser Stelle Einblicke in die Perspektiven aus der Praxis der Psychosozialen Zentren.
Was wissen wir über psychische Belastungen bei geflüchteten Menschen?
Geflüchtete Menschen tragen oft schwer an den Erlebnissen von Krieg, Gewalt und Verfolgung. Viele erleben auf der Flucht zusätzlich Gewalt – etwa durch Misshandlung oder sexuelle Übergriffe.
In Deutschland setzen sich die Belastungen durch schwierige Lebensbedingungen fort: Enge und fehlende Privatsphäre in Sammelunterkünften, unzureichende hygienische Verhältnisse und Unsicherheit prägen den Alltag. Der unsichere Aufenthaltsstatus und lange Asylverfahren erzeugen einen kontinuierlichen Stress, der eine Stabilisierung verhindert. Diskriminierung im Gesundheitssystem und strukturelle Hürden beim Zugang zu Unterstützungsangeboten verschärfen die psychische Belastung zusätzlich.
Studien zeigen, dass rund 30 % der geflüchteten Menschen an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) leiden.
Wie werden Geflüchtete psychosozial versorgt, wenn sie in Deutschland ankommen?
Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben Schutzsuchende in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts nur Anspruch auf medizinische Versorgung bei akuten Erkrankungen oder Schmerzen. Ob Psychotherapie dazu zählt, liegt im Ermessen der zuständigen Sozialämter. In der Praxis werden Behandlungsanträge häufig von medizinisch nicht qualifiziertem Personal bearbeitet. Viele Anträge werden restriktiv abgelehnt, sodass Geflüchtete oft erst nach Widersprüchen oder Gerichtsverfahren Zugang zu einer Behandlung erhalten.
Die Regelversorgung ist für geflüchtete Menschen deshalb kaum zugänglich. Hinzu kommt, dass viele psychisch belastete Geflüchtete nicht die Kraft oder die Netzwerke haben, um ihre Rechte – auch auf eine angemessene Gesundheitsversorgung – einzufordern. Viele fühlen sich durch die gesellschaftliche Debatte über „Sozialleistungstourismus“ und ihre Erfahrungen mit Behörden entwürdigt und haben Angst, als Belastung für das System wahrgenommen zu werden.
Die Psychosozialen Zentren (PSZ) versuchen seit den 1980er Jahren, den enormen Bedarfen zu begegnen. Sie bieten spezialisierte Unterstützung, darunter psychotherapeutische und psychosoziale Beratung. Derzeit sind 51 Psychosoziale Zentren Mitglied des Bundesverbandes BAfF.
Wie hoch ist der Bedarf?
Der Bedarf an psychosozialer Unterstützung für Geflüchtete übersteigt das Angebot bei Weitem. Im Jahr 2022 konnten nur 3,1 % der potenziell benötigten psychosozialen Versorgung abgedeckt werden. Wartezeiten auf einen Therapieplatz in einem PSZ betragen durchschnittlich 5,7 Monate, in einigen Fällen sogar bis zu 21 Monate.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Psychosozialen Zentren?
Ein zentrales Problem der Psychosozialen Zentren ist die unzureichende und unbeständige Finanzierung. Die für Geflüchtete mit Traumaerfahrungen spezialisierten Einrichtungen können dadurch dem Bedarf oft kaum gerecht werden. Befristete Verträge machen es schwer, Fachkräfte langfristig zu binden. Die Angebote der PSZ sind häufig projektbezogen und von befristeten Fördermitteln abhängig, was die Versorgungssicherheit erheblich gefährdet. Aktuelle Kürzungen um 50 Prozent der Bundesmittelvon 13 auf 7 Millionen Euro verschärfen die ohnehin prekäre finanzielle Lage. Dadurch fehlen die notwendigen Ressourcen, um den Bedarf zu decken. Dabei ist die psychosoziale und oft präventiv angelegte Versorgung der PSZ deutlich kostengünstiger, als psychiatrische Behandlung oder langjährige Folgekosten durch chronifizierte psychische Erkrankungen.
Auch die Zusammenarbeit mit der Regelversorgung ist oft schwierig: Nicht alle Zentren verfügen über gute Kontakte zu psychiatrischen Kliniken, und die Sprachmittlung muss von den PSZ selbst finanziert werden. Diese Hindernisse beeinträchtigen die Qualität und Kontinuität der Versorgung erheblich.
Hätte eine bessere Versorgungsstruktur Taten wie diese verhindern können?
Eine pauschale Antwort darauf ist schwierig. Es ist jedoch anzunehmen, dass eine bessere Versorgung – sowohl in Psychiatrien als auch in der allgemeinen Regelversorgung sowie der Psychosozialen Zentren als spezialisierte Einrichtungen – die Wahrscheinlichkeit solcher Taten verringern würde. Strukturelle Versäumnisse in der Gesundheitsversorgung tragen dazu bei, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen oft nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Diese Defizite werden nun migrationspolitisch instrumentalisiert, obwohl sie ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellen. Es wird eine Situation hergestellt, in der Prekarität herrscht, in der es keine Kapazitäten gibt, vermeintlich. Und dann werden Probleme, die dadurch entstehen, auf dieses System geschoben, das man selbst schlecht ausgestattet hat.
Geht von psychisch erkrankten Geflüchteten eine besondere Gefahr aus?
Der weitaus größte Teil der Klient*innen in den Psychosozialen Zentren hat selbst extreme Gewalt erfahren – sei es als Fluchtgrund, während der Flucht oder in Deutschland, etwa durch schwierige Unterbringungsbedingungen. Viele dieser Menschen zeigen eine enorme Dankbarkeit für diese Unterstützung, weil sie diese sonst nirgendwo im Unterstützungssystem bekommen.
Es gibt auch viele Menschen, die erst in Deutschland wirklich krank werden, die ihre traumatischen Erfahrungen vorher im Überlebensmodus noch verkraftet haben und erst hier Symptome ausbilden. Gerade in dieser politischen Situation, in der sehr viel mehr Diskriminierung und rassistische Gewalt stattfindet.
Der überwiegende Teil geflüchteter Menschen begeht keine Gewaltdelikte. Betrachtet man geschlechtsspezifische Bezugsgrößen, liegt der Anteil der Tatverdächtigen bei schweren Delikten wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexueller Nötigung bei unter 1 %. Studien zeigen, dass 99,4 % der in Deutschland lebenden Ausländer*innen nicht wegen Gewaltstraftaten registriert sind.
Was darüber hinaus gerade aus dem Fokus gerät: Niemand wird jedoch als Gewalttäter geboren. Gewalt entsteht unter spezifischen Einflüssen und abhängig von der Sozialstruktur. Die Lebensbedingungen für geflüchtete Menschen in Deutschland produzieren ihrerseits Risikofaktoren, denen der Bevölkerungsdurchschnitt nicht ausgesetzt ist.
Gibt es im System eine Stelle zur Erkennung und Unterstützung gefährdeter Personen?
Gewalt hat viele Ursachen und entsteht nicht ausschließlich durch Traumatisierung. Wäre dies der einzige Faktor, müssten die Zahlen gewalttätiger Menschen deutlich höher sein. Prävention beginnt immer mit einer funktionierenden Versorgung, gesellschaftlicher Teilhabe und der Möglichkeit, dass Unterstützungsbedarfe rechtzeitig erkannt werden. Doch genau hier zeigen sich strukturelle Schwächen des aktuellen Systems.
Die Psychosozialen Zentren leisten bereits Präventionsarbeit, indem sie mit Unterkünften zusammenarbeiten und Gewaltschutzkonzepte umsetzen. Allerdings gibt es keine systematische, gesetzlich verpflichtende Struktur zur frühzeitigen Identifizierung gefährdeter Personen. Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung erfolgt eine Überweisung in psychiatrische Kliniken, die dazu verpflichtet sind, geflüchtete Menschen unabhängig von Aufenthaltsstatus oder Versicherungsstatus aufzunehmen. Dennoch bleibt die Versorgung lückenhaft: Überlastete Kliniken entlassen Patient*innen mitunter bereits nach 24 Stunden.
Gleichzeitig kann eine wirksame Identifizierung immer nur in Verbindung mit einer kontinuierlichen Behandlung stehen. Aktuelle Forderungen nach Listen gefährdeter Personen greifen zu kurz, da sie die tatsächlichen Ursachen und die Notwendigkeit einer langfristigen Versorgung nicht berücksichtigen.
Darüber hinaus sollten flächendeckende Gewaltschutzkonzepte in Unterkünften etabliert werden, ergänzt durch Screening-Programme, die gefährdete Personen frühzeitig identifizieren und in Betreuung vermitteln. Auch strukturelle Faktoren wie unsichere Aufenthaltsstatus, lange Asylverfahren und belastende Lebensbedingungen tragen erheblich zur Destabilisierung bei. Prävention muss hier ansetzen, um Stabilität und Perspektiven zu schaffen. Zusätzlich sollte die gesellschaftliche Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen abgebaut werden, um die Bereitschaft zu fördern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Prävention ist nur erfolgreich, wenn sie systematisch auf mehreren Ebenen ansetzt: durch Unterstützung, Entstigmatisierung und den Abbau von strukturellen Hürden.
Pressespiegel:
Leo Teigler, Referent*in für Traumaarbeit und psychosoziale Versorgung bei der BAfF, spricht im Interview mit der taz zum Spannungsfeld von strukturellen Versäumnissen, dem Diskurs um Trauma und Gewalt und zur aktuellen Arbeit mit Klient*innen in den Psychosozialen Zentren. Lukas Welz, Geschäftsleiter der BAfF erklärt im Interview mit n-tv, warum sich psychische Erkrankungen bei Geflüchteten in Deutschland häufig zuspitzen und welche Rolle der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem dabei spielt.
Was es bräuchte, damit das psychiatrische System und die PSZ gemeinsam eine gute Versorgung anbieten können, erklärt Dr. Barbara Wolff, Psychiaterin und langjährig im Vorstand der BAfF im Gespräch mit dem WDR. Wie selten Menschen, die Flucht und Verfolgung erlebt haben, in Bayern Behandlung erhalten, darüber haben unsere Kolleg*innen von Refugio München mit der Süddeutschen Zeitung gesprochen.
Sowohl der WDR als auch die Tagesschau berichteten zudem ausführlich zur aktuellen Versorgungssituation – auf Grundlage der Daten der BAfF. Eike Leidgens, psychotherapeutische Leitung in der MFH Bochum und ebenso im Vorstand der BAfF erklärt im NDR, warum Grenzschließungen und Einreisverbote an den vorhandenen strukturellen Problemen nichts ändern würden
Perspektiven: Für eine Asylpolitik, die sich an den Menschenrechten orientiert, statt Ängste zu schüren und Diskriminierung zu verstärken.
Die aktuelle Verschärfung des politischen und gesellschaftlichen Diskurses bereitet uns große Sorge. Veränderungen in der Asyl- und Migrationspolitik, die Menschen in prekäre Situationen treiben, wie wir sie bereits nach Solingen beobachten konnten, sind alarmierend. Sozial- und Gesundheitsleistungen werden weiter gekürzt, Menschen faktisch in Wohnungslosigkeit gedrängt, und die finanzielle Sicherheit psychosozialer Unterstützungsangebote ist ungewiss. Dies gefährdet nicht nur die Betroffenen, sondern stellt auch Therapeut*innen vor unlösbare Herausforderungen, wenn es darum geht, für Stabilität in der Behandlung zu sorgen.
Die Idee, Register für psychisch kranke Menschen einzuführen, ist nicht nur fachlich unhaltbar, sondern aus politischer und historischer Perspektive zutiefst menschenverachtend. Solche Ansätze ignorieren die Tatsache, dass Menschen, die Gewalt erlebt haben und Zugang zu guter Versorgung erhalten, kein Risiko für andere darstellen. Es ist für psychisch belastete Menschen ein enormer Kraftakt, sich in dieser Lage Hilfe zu suchen. Diese Menschen zusätzlich als gefährlich zu markieren, verschärft nicht nur ihr Leid, sondern auch die gesellschaftliche Ausgrenzung, der sie ohnehin ausgesetzt sind. Die Lösung liegt nicht in pauschaler Diskriminierung, sondern in einer stärkeren Entstigmatisierung, flächendeckenden Krisendiensten und einer schnellen, individuellen Versorgung. Ein solches Register würde nicht nur Betroffene abwerten, sondern auch die deutsche Geschichte ignorieren, die uns zu besonderer Verantwortung gegenüber schutzbedürftigen Menschen verpflichtet. Statt Ängste zu schüren, sollte die Gesellschaft Hilfe und Unterstützung priorisieren.
Politisch müsste das AsylbLG reformiert werden, damit Geflüchtete von Anfang an uneingeschränkten Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten. Sprachmittlungskosten sollten gesetzlich geregelt werden, um sprachliche Hürden abzubauen. Zudem braucht es eine nachhaltige Finanzierung und den Ausbau der PSZ, um die Versorgungskapazitäten deutlich zu erhöhen. Gleichzeitig sollten interdisziplinäre Ansätze in der Gesundheitsversorgung gefördert werden, um auf die spezifischen Bedürfnisse traumatisierter Geflüchteter besser eingehen zu können. Nur durch diese strukturellen Reformen kann eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung gewährleistet werden.
Wir fordern eine Asylpolitik, die sich an den Menschenrechten orientiert, statt Ängste zu schüren und Diskriminierung zu verstärken. Nur durch eine solidarische Gesellschaft und ein unterstützendes Versorgungssystem können wir denjenigen gerecht werden, die unsere Hilfe benötigen.