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Keine migrationspolitische Einschränkung von Gesundheitsleistungen erlaubt – Wegweisende Beschlüsse aus Hessen

Foto von marsblac (CC0 / pixabay.de)

Geduldete Menschen sollten bei einem Aufenthalt, der nicht nur kurzfristig ist, in Deutschland Anspruch auf alle medizinischen Leistungen haben, die auch für Deutsche laut dem Krankenkassengesetz gelten. Dies hat das Hessische Landessozialgericht am 11.07.2018 beschlossen und äußerte in der Begründung starke verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich der gängigen Praxis, Gesundheitsleistungen für geduldete Menschen durch die §§ 4 und 6 des Asylbewerberleistungsgesetztes (AsylbLG) auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände einzuschränken.

 

„Wir begrüßen diese wegweisenden Beschlüsse, da sie den Gesundheitszustand der Menschen in den Blick nehmen und nicht allein den bestehenden aufenthaltsrechtlichen Status in Deutschland“, erklärt Nina Hager, Rechtsreferentin der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V. „Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2012 in einem Grundsatzurteil festgestellt, dass migrationspolitische Erwägungen kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen könnten. Wir hoffen, dass sich die Gerichte in Zukunft an diesen Beschlüssen orientieren und sich die Gesundheitsversorgung für geflüchtete Menschen so verbessert.“

Sechs Jahre nach dem wegweisenden Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts werden nun (endlich) diese Grundsätze auf die Gesundheitsversorgung übertragen. Dies war dringend erforderlich und stellt eine langjährige Forderung der BAfF dar.

Diese Erwägungen werden auch für die Bewilligung von Psychotherapien für geduldete Traumatisierte erhebliche Auswirkungen haben. Die BAfF hofft, dass die Sozialämter von nun an die Beschlüsse bei der Entscheidung über Therapieanträge von Geduldeten berücksichtigen werden und somit mehr Menschen, die dringend behandlungsbedürftig sind, die erforderliche Behandlung erhalten können.

Zum Hintergrund: Am 11.07.2018 hat das Hessische Landessozialgericht die Beschwerde der Sozialbehörde gegen einen positiven Beschluss des Sozialgerichts in Fulda abgewiesen (Beschluss vom 11. Juli 2018; L 4 AY 9/18 B ER ). In dem Streit ging es um die Frage, welche Gesundheitsleistungen nach §§ 4 und 6 AsylbLG zu gewähren sind.

Dem lag die Klage und der Eilantrag eines Geduldeten zugrunde, der unter einer Hepatitis C – Infektion litt. Die behandelnden Ärzt*innen stellten eine dringende Behandlungsbedürftigkeit fest, und prognostizierten eine 90%ige Heilungschance bei Behandlung mit einem neuen antiviralen Medikament.

Das zuständige Sozialamt lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Anspruch könne weder aus § 4 AsylbLG noch aus § 6 AsylbLG hergeleitet werden, da weder akute Schmerzzustände vorlägen, noch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes unmittelbar bevorstünde – diese zwei „Gründe“ werden im AsylbLG als Bedingungen für Gesundheitsleistungen genannt.

Das Sozialgericht Fulda hat zugunsten des Geduldeten entschieden und das Sozialamt mit Beschluss vom 18. Juni 2018 verpflichtet, vorläufig die notwendigen Kosten für die Behandlung zu übernehmen.

Das Sozialgericht stützte sich in der Begründung auf das Urteil vom Bundesverfassungsgericht vom 18. Juli 2012[1] zu § 3 AsylbLG und dem Schutz des menschenrechtlichen Existenzminimums, das eben auch die physische Existenz umfasst. § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylbLG müsse deshalb verfassungskonform ausgelegt werden, sodass das Niveau der Gesundheitsleistungen weitgehend dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch V (SGB V; Krankenkassengesetz) entspreche. Dies könne nach einem Aufenthalt von zwei Jahren unterstellt werden.

Das Landessozialgericht wies die hiergegen eingelegte Beschwerde der Sozialbehörde ab und begründete die Entscheidung damit, dass der Ausgestaltung der Ansprüche auf Gesundheitsleistungen in §§ 4, 6 AsylbLG sowohl unionsrechtliche als auch verfassungsrechtliche Bedenken begegneten.

Das Landessozialgericht stärkte die Argumentation des Sozialgerichts. Es stellt fest, dass § 6 Abs. 1 S. 1 2. Var. AsylbLG – wonach Leistungen gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind – im Hinblick auf das menschenwürdige Existenzminimum gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verfassungskonform auszulegen sei. Es sei geboten, dass bis auf in wenigen Ausnahmen im Rahmen der medizinischen Versorgung alle Leistungen nach §§ 47 ff. SGB XII (Sozialhilfe) bzw. nach dem SGB V (Krankenkassengesetz) gewährt würden.

 

[1] BVerfG, Urteil vom 18.07.2018, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11.